Fantastisch, schräg und hochintelligent

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Ein merkwürdiges Ungeheuer aus der Tiefe bedroht New York City. Es sprengt Brücken, hebt Straßenbeläge an, taucht mit Riesententakeln aus den Tiefen des Hudson River oder einem Pool in Queens. Wo es erscheint und zerstört, infiziert es mit einer Art Gespinst die Passanten, aus deren Körpern sich unbemerkt feinste Tentakel winden und die künftig der totalen Kontrolle anheimfallen.

Jede dieser Katastrophen in den fünf Stadtteilen geht mit der "Geburt" eines menschlichen Avatars einher, der sich mehr oder weniger schnell seiner WächerInnenrolle bewusst wird, begreift, handelt und das Unheil vorerst abwendet. Das heißt, der "Geist" von Manhattan, Brooklyn, der Bronx, Queens und Staten Island ergreift Besitz von einer den Statteil repräsentierenden Person und überträgt dieser sämtliches Wissen, gelebte Erfahrung und Emotionen seiner BewohnerInnen. Ihre Aufgabe ist es, zunächst zueinander zu finden und dann gemeinsam den Gesamtavatar und damit New York City vor dem Untergang zu retten.
Der erste Band der geplanten Trilogie macht die Lesenden vor allem mit den Lebensgeschichten der aufwendig gezeichneten Hauptcharaktere Manny, Brooklyn, Bronca, Padmini und Aislyn, ihrer Stadtteile und ihrer Bewusstwerdung vertraut.

Das Unheil selbst personalisiert sich in Gestalt der "Frau in Weiß" - viktorianisches Gruselmotiv oder Symbol der weißen Übermacht? Mit deren historischen Narrativen, beispielsweise dem von Weißen errichteten New York auf unbewohntem Ödland, rechnet N.K. Jemisin jedenfalls genauso konsequent ab wie mit (umgekehrtem) Rassismus im Kunst- und Kulturbetrieb, mit Gentrifizierung, Sexismus, Homophobie, Polizeigewalt - allem, was einer Stadt das Leben nimmt.
Innerhalb der fantastischen Rahmenhandlung mit actionreichen Verfolgungsjagden, Brückenschlachten und Poolmonstern geht es also auch inhaltlich ziemlich in die Tiefe.
Die ohnehin beeindruckend kluge Autorin hat akribisch recherchiert und das Manuskript viele ExpertInnen gegenlesen lassen, um die Figuren der Wächterinnen historisch wahr, divers, kultursensibel und politisch korrekt zu zeichnen. Eine ungeheure Faktenfülle, zahllose Referenzen an NYC, die nicht zu bremsende Fabulierlust, eine scharf gespitzte Feder und der absolut schräge Plot verwirbeln zu einem großen Lesevergnügen.
Eines, das durchaus auch mal anstrengend sein kann:
„Die Dinge, die aus dem Mund der Frau kommen, ergeben immer fast einen Sinn. Und Aislyn versteht fast, was vor sich geht...aber schließlich schüttelt sie doch frustriert den Kopf. 'Primären was?'" (S.131)
So wie Aislyn angesichts ihrer noch unbewussten Wächterinnenschaft für Staten Island, ging es mir während der Lektüre, die phasenweise sehr verkopft und übererklärt daherkommt.
Dennoch: Fans von Neil Gaiman und Matt Ruffs "Fool on the Hill" werden es lieben. Und die von New York City natürlich erst recht.