Essentielle Themen des Lebens im 20. Jahrhundert

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"Brutaler Roman über die Liebe zum Leben" - das steht auf Seite 3 der Leseprobe und es deutet schon vieles an, was sich beim Lesen der ersten Seiten offenbart: Die "Liebe zum Leben" scheint ein essentielles Thema des Buches zu sein, aufgrund der Gattungsbezeichnung "Roman" kann man erkennen, dass es um etwas längeres Erzähltes gehen muss, das in die Tiefe geht. Und das Attribut "brutal" lässt einen assoziieren: Es wird möglicherweise um Grausames, Gewalttätiges, Machtvolles, Mächtiges gehen.

Inhaltlicher Schwerpunkt ist, dass ein junger Schriftsteller einen alten Mann trifft, der auf einer Müllkippe wohnt und ihm seine Geschichte erzählen will. Der ganzen Situation haftet etwas Surreales an: Der Schriftsteller vergleicht den Ort der Handlung, die Müllkippe, mit einem japanischen Garten: "Nur dass es sich bei den Objekten, die die kontemplative Atmosphäre erzeugten, nicht um von Menschenhand überhöhte Naturerscheinungen handelte, sondern um weggeworfene Dinge. Die nackten Wurzeln eines Baumes, der inmitten des Mülls gewachsen war, streckten sich über den Boden wie die Zinken einer Harke; die Äste waren mit abgeschlagenen Sieben, verbeulten Schöpfkellen und rostigen Zangen geschmückt. Überall auf den scheinbar zufälligen, bei genauerem Hinsehen aber perfekt geordneten Anhäufungen wuchsen Blumen, und entlang des Weges, der sich zwischen den Hügeln aus sortiertem Kram dahinschlängelte, waren Steine und kaputte Ziegel ausgelegt " (Seite 11 f.).

Von dem Moment an, in dem sich der Schriftsteller auf die Geschichte des alten Mannes, Mares, einlässt, geht das Erzählen collagenhaft, bruchstückhaft, unsystematisch weiter: Man erfährt kurz einige Details aus Mares' Leben, einige Gedanken des Schriftstellers, der anfangs noch nicht weiß, ob er sich auf die Geschichte einlassen will: "Ist schon ein interessanter Typ, dachte ich, aber warum erzählt er mir das alles und warum gerade jetzt? Was steckt dahinter? Will er berühmt werden? Warum? Endlose Fragen schwirrten mir im Kopf herum" (Seite 18).

Die Sprache strotzt vor kraftvollen, gewaltigen, intensiven Bildern, die einen in den Bann nehmen: "Es war etwas Besonderes, in das Leben eines Fremden hineinzuschauen wie ein Chirurg in einen geöffneten Brustkorb" (Seite 19). Dadurch wird die Kraft von Erinnerungen, die Kraft des Erinnerns deutlich: "Als kehre etwas wieder, das er vor langer Zeit schon
einmal erlebt hatte . . . Es konnte nicht sein und drängte sich doch hartnäckig in seine Gedanken. Er wehrte sich dagegen, verbannte es aus seinem Schädel, und so irrte das Vergangene durch seine Innereien, stieß kantig und scharf gegen Magen­ und Darmwand, als habe er eine ganze Stadt verschluckt. Dabei waren es nur Ruinen —
kurz nach der Bombardierung." (Seite 20). / "Aber es rief niemand um Hilfe, und so trat er einen Moment auf der Stelle, bevor er losging über den Erinnerungsplatz zur Kindheitsstraße in Richtung Ufer der Vergangenheit, von dem es nur ein kurzer Spaziergang war zum Markt der Liebe und Hoffnung. Namen, die mitsamt der Stadt nach der Bombardierung verschwunden waren. Nichts war geblieben. Hatte die Zeit alles zerstört? Die Augen nach wie vor geschlossen, fing er an, von Sophie zu erzählen; Sophie, in die er sich in einem der Außenkommandos des Konzentrationslagers Mauthausen verliebt hatte. Stockend und unter Tränen sagte er: „Jetzt erzähle ich Ihnen etwas, das ich sechzig Jahre lang zu verdrängen versucht habe.“ (Seite 20 f.).
Und passend dazu, wie Erinnerungen kommen und gehen, unsystematisch, bruchstückhaft, collagenhaft, so wird eben auch erzählt: 2007 - 2004 - 2006 - zunächst personal aus der Ich-Perspektive des jungen Schriftstellers. Das verdeutlicht den Prozess des Erinnerns und Verarbeitens.

Dann erfolgt ein Bruch, denn nun gibt es einen großen Schritt zurück in die Vergangenheit, bis ins Jahr 1898, dem Geburtsjahr von Rosa Maria Mares, möglicherweise einer Verwandten, vielleicht der Mutter von Bernhard Mares. Hier wird auktorial aus der dritten Person erzählt, eine größere Distanz wird dadurch aufgebaut, die sofort wieder durchbrochen wird durch einen Einschub des Erzählers, in dem er sich an männliche Leser wendet, die er direkt anspricht: "Wenn Sie nicht bereit sind, Vater zu werden, halten Sie inne, Sie Samenvergießer an allen Fronten. Was, wenn Ihr Nachwuchs anders lebt, als Sie es erwartet haben? Sind Sie bereit, ihm beizustehen, auch wenn er nicht so wird, wie Sie es wollten? Wenn nicht, ziehen Sie Ihr Werkzeug aus der Dame heraus. Sie wissen nie, was Sie mit Ihrer Tat bewirken. Ich warne Sie." (Seite 25).
Dann geht die Erzählung weiter, bis sie erneut unterbrochen wird, diesmal durch einen kurzen Einschub, in dem aus dem Leben eines Straßenbahnfahrers erzählt wird.
"Der endlose Lärm verwandelte sich in Stille. Stille wie am Anfang. Ein unbeschriebenes Blatt. Ein neuer Anfang, dessen einzige Schattenseite es war, dass er zum gleichen Ende führen würde.  •  Zum Beispiel zum gleichen  Gerede mit seiner Frau, wenn er abends nach Hause kam. Vielleicht wird es heute mal anders, dachte er, doch darüber musste er selbst lachen. So klingelte er wenigstens ein bisschen zum Spaß.  •  Er ahnte nicht,  was kam. Und so sauste die Straßenbahn durch Wien und sammelte Schicksale auf." (Seite 29).

Unterstützt wird die Darstellung dieses Prozesses des Erinnerns nicht nur durch die Erzählweise. Das Collagenhafte findet sich auch im Layout wieder, denn es erfolgt ein Spiel mit Schriftart, Schriftgröße, Kursiv- und Fettdruck, Zeichensetzung (mittige Punktsetzung zwischen Sätzen).

Ein Roman, der anders ist als andere. Der irritiert, mit den Erwartungen des Lesers spielt, durch die Macht der Sprache und Bildlichkeit imponiert und mitreißt , durch die sprachlichen und erzähltechnischen Besonderheiten beeindruckt und zum Weiterlesen anregt, je geradezu treibt und einen konfrontiert mit den essentiellen Themen des Leben: Suche / Sinn des Lebens / Leidens / Erkenntnis / Angst / Hoffnungslosigkeit / Zutrauen / Schicksal / Glück / Reise / Mühsal (Seite 8).