Bist du noch gesund oder diagnostizierst du schon?
Erschreckend sind die ganzen selbsternannten Heiler und Therapeuten, aber auch die echten, die auf Social-Media-Kanälen wie TikTok oder Instagram Geld mit der vermeintlichen Krankheit anderer Leute machen. Und dabei liefern sie selbst erst einmal die Definitionen, mit Hilfe derer sich unsichere, überforderte, in dieser großen, weiten Welt orientierungslose Menschen eine Krankheit diagnostizieren, deren Lösung dann wieder in der Ratsuche auf eben jenem Kanal besteht, der einem die Diagnose bescherte. Ein Teufelskreis, wie es scheint!
In ihrem Buch „Digitale Diagnosen“ erklärt Laura Wiesböck sehr klug und weitsichtig die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Definitionen von Gesundheit und Krankheit und darauf basierenden Heilsversprechen des Internets. Dabei zeigt sie stets Respekt für alle medizinisch diagnostizierten psychischen Erkrankungen und verneint auch nicht die Errungenschaften moderner digitaler Kommunikation, die für die Betroffenen Möglichkeit des Austausches mit Leidensgenoss:Innen sein kann, Enttabuisierung bestimmter Krankheitsbilder möglich macht und den Erkrankten eine Plattform bietet, sich anonym öffnen zu können. Insbesondere auch dann, wenn professionelle Hilfe nicht erreichbar oder finanzierbar ist. Gleichzeitig zeigt sie aber auch sehr deutlich, welches Schindluder auf allen Seiten mit diesem Trend betrieben wird: Da sind zum einen die, die es besser wissen müssten: die ausgebildeten professionellen Therapeuten, die auf einen Trend aufspringen, um an den großen finanziellen Gewinnmöglichkeiten beteiligt zu sein. Da sind die Influencer:Innen, die ohne Vorbildung und oft ohne Kenntnis, Bilder von dem entwerfen, was einen gesunden Menschen ausmacht, oder sich zu einem ästhetischen Bild des leidenden Kranken stilisieren, das sich gut vermarkten lässt, gestützt auf eine ganze Industrie von Selfcare-Produkten und Angeboten, mit denen man Menschen auf der Suche nach einem Sinn im werte- und traditionsleeren Leben ködern kann. Und dann sind dann zum Schluss eben diese Menschen, die häufig nach medizinischen Standards vielleicht gar nicht krank sind, sondern gerade eine miese Zeit haben, ein Tief oder eine schlechte Erfahrung gemacht haben, die zum menschlichen Leben dazugehört wie die Sonnenseiten. Diese nutzen dann die angebotenen Diagnoseverfahren, die ihnen ermöglichen, sich ein Krankheitsbild anzueignen, das sie von jeder Selbstverantwortung, das Leben wieder auf die Reihe zu kriegen, entbindet oder für das es im Netz zahlreiche „Therapiemöglichkeiten“ gibt, die der Selbstoptimierung mit dem Versprechen der Heilung dienen.
In Anbetracht eines zunehmenden Trends, die Sinnleere des eigenen Lebens mit Achtsamkeits-, Meditations-, Yoga oder sonstigen Lifestyle-Retreats zu füllen, ist dies ein wichtiges Buch, das eine ganze Industrie hinter diesem Trend entlarvt und der Gesellschaft den Spiegel vorhält, die das, was gesund ist, zu wenig schätzt und diejenigen, die wirklich krank sind, nicht genügend ernst nimmt, wenn sie glaubt, Krankheit mit einem Videotutorial oder frei verkäuflichen Gesundheitspräparaten welcher Art auch immer begegnen zu können.