Unbequem, ungeschönt, unfassbar gut

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
waschbaerprinzessin Avatar

Von

„…dann tut mir zur Hölle den Gefallen, benutzt euer Internet und recherchiert noch mal ganz kurz, in welchem verdammten Land ihr lebt.“ Das verlangt Kasih, die Erzählerin aus Shida Bazyars Roman „Drei Kameradinnen“ von uns Lesenden, während sie in der Nacht an ihrem Schreibtisch sitzt und aufschreibt, wie es dazu gekommen ist, dass eine ihrer besten Freundinnen im Gefängnis gelandet ist. Kasih, Saya und Hani, das sind die titelgebenden drei Kameradinnen, drei nicht-weiße Frauen, die gemeinsam in einer Siedlung irgendwo in Deutschland großgeworden und nun nach längerer Zeit wieder einmal zu dritt zusammengekommen sind, um gemeinsam eine Hochzeit zu besuchen. Kasih erzählt davon, was sich in den vier Tagen, die sie und ihre Freundinnen zusammen verbringen, ereignet, erinnert sich an ihre gemeinsame Kindheit in der Siedlung und zeigt vor allem auf, wie ihnen im Alltag immer wieder Rassismus begegnet. Dies geschieht manchmal offensichtlich und unübersehbar und manchmal in kleinen Nadelstichen, deren Auswirkungen sich erst im Nachhinein und in der Summe offenbaren.

Dieser Roman ist unbequem. Er spricht uns, die wir ihn lesen, immer wieder direkt an und er unterstellt uns Dinge, ohne uns zu kennen. Aber vielleicht treffen auch wir ständig Annahmen über Menschen, die wir gar nicht kennen? Ich habe mich beim Lesen immer wieder ertappt gefühlt. Manchmal war es, als könnte Kasih in meinen Kopf schauen und meine Gedanken vorhersagen. Überhaupt schaut sie immer wieder in die Köpfe verschiedenster Figuren, geht auf deren Sorgen und Probleme ein und zeigt uns, wie Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln wirken. Dadurch sowie durch die vielen Diskussionen, die die Figuren miteinander führen, werden wichtige Themen aus unterschiedlichen Richtungen beleuchtet und Argumente einander gegenübergestellt. Kasih kommentiert diese Diskussionen im Nachhinein selbstkritisch und stellt dabei auch ihre eigenen Annahmen und die ihrer Freundinnen immer wieder infrage. Auf diese Weise gelingt es der Autorin, dass das Buch unbequem ist und die Lesenden dazu bringt, sich mit dem Thema Rassismus in Deutschland und was das mit ihnen selbst zu tun hat zu beschäftigen und eigene Meinungen und das eigene Verhalten zu hinterfragen, ohne dass es sich dabei wie eine einzige Anklage mit erhobenem Zeigefinger liest.

Irgendwie hat es sich für mich ein bisschen wie eine besonders lange E-Mail einer Freundin gelesen, in der sie Erlebnisse, Erinnerungen und Gedanken mit mir teilt. Bazyars Sprache ist alltagsnah, ohne dabei in irgendeiner Weise trivial, plump oder zu bemüht modern zu wirken. Bei den Dialogen habe ich mir immer wieder gedacht: „Ja, so reden Leute wirklich!“ Für das Verhalten mancher Figuren musste ich mich beim Lesen mitschämen. Nicht nur die Sprache, auch die Geschehnisse wirken ungemein – und nicht selten erschreckend – realistisch. Kasih beobachtet ihre Umgebung genau und bringt das, was sie sieht, messerscharf und schonungslos, aber auch mit Humor und Ironie und auf den Punkt. Der Roman fühlt sich an wie eingefangene Realität und doch ist die Erzählerin alles andere als zuverlässig und gibt immer wieder zu, dass bestimmte Teile vorangegangener Schilderungen nicht der Wahrheit entsprechen, und am Ende weiß man überhaupt nicht mehr, was man glauben soll. Manchmal gibt es eben keine einfachen Antworten. Das gesamte Buch ist ein riesiges emotionales Gedankenexperiment, das zeigt, wie wenig man sich auf seine eigenen Annahmen und Überzeugungen verlassen kann.

Shida Bazyars Roman „Drei Kameradinnen“ ist ein verdammt wichtiges und wirklich geniales Buch über Erfahrungen nicht-weißer Frauen in Deutschland, das mir sicher noch lange durch den Kopf schwirren und einige Gedanken darin durcheinanderwirbeln wird.