Ein Abgrund tut sich auf

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singstar72 Avatar

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Ich bin nach der Lektüre des Buches „Du gehörst mir“ von Peter Middeldorp noch ganz „durchgerüttelt“. Wie um Himmels Willen soll man ein Buch bewerten, bei dem man sich nicht einmal getraut zu sagen, dass man es „gerne“ gelesen hat – bei dem Thema! Wie schon in der Leseprobe, habe ich auch hier, im ganzen Buch, permanent gekämpft. Mit mir. Mit meinem „gesunden Empfinden“. Aber auch mit einer Art widerwilligem Verständnis, das sich dem Täter gegenüber einstellen wollte. Und natürlich mit der absoluten Hochachtung, die ich vor der literarischen Leistung des Autors hatte!

Obwohl schnell gelesen, hat sich das Buch für mich sehr „zeitlos“ angefühlt. Es ist nur grob zeitlich eingeteilt; nämlich in die vier Erzählabschnitte Frühling, Sommer, Herbst, und Winter. Das bezieht sich jedoch auf keinen konkreten Zeitraum, sondern eher – sozusagen – auf die „emotionalen Jahreszeiten“, die der Täter durchmacht.

Es ist nämlich ganz sicher kein Thriller. Auch keine eigentliche Lebensgeschichte, keine Beichte, kein Geständnis. Der Erzähler befindet sich offenbar bereits in Haft, und versucht im Rückblick, vor sich selber Bestandsaufnahme abzulegen. Er ist auf „seelischer Spurensuche“. Dabei verliert er durchaus Chronologie sowie Fakten bisweilen aus dem Auge. Wie ging es ihm? Welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass geschah, was geschah? Und wie steht er eigentlich zu seiner eigenen Tat? Bis zum Schluss mag ich als Leser das nicht wirklich „Reue“ nennen, was sich da abspielt. Eher eine Art Ermüdung oder Erschöpfung. Und eine gute Portion Fassungslosigkeit. Aber Reue…?

Tille Storkema, ein niederländischer Landwirt so Mitte 50, hat vor 13 Jahren ein junges Mädchen vergewaltigt und getötet. Er schleicht in seinem Text um die Tat herum wie die sprichwörtliche Katze um den heißen Brei. Man sollte das Buch wirklich nicht zu schnell lesen, oder zu oberflächlich. Denn in der Sprache allein spiegeln sich eine Vielzahl an seelischen Mechanismen wider, die Tille einsetzt. Oder die ihn überfallen…? (Aus psychologischer Hinsicht ist das Buch jedenfalls höchst interessant!) Manchmal spricht Tille von sich in der dritten Person. Oder er erzählt – scheinbar kaltblütig – völlig Nebensächliches. Ergeht sich in Betrachtungen um das Wesen der Landwirtschaft, die Veränderung der Jahreszeiten, den Zuzug von Städtern. Und dann wieder der völlig übergangslose Kontrast zu den Passagen seiner eher ungesunden Zuneigung zur eigenen Tochter… da lief es mir manchmal eiskalt den Rücken herunter! Vermutlich wäre sie irgendwann das nächste Opfer gewesen…

Einen Stern ziehe ich nur deshalb ab, weil ich mich durch den Klappentext habe in die Irre führen lassen. Denn das politische Geschehen (dass das Dorf zunächst Asylbewerber verdächtigt, die Tat begangen zu haben) kommt viel zu kurz. Es nimmt einfach keinen besonderen Raum ein. Sicher, zum Schluss ist es ein Politiker, der eine DNA-Untersuchung fordert. Aber nach 13 Jahren…? Das ist schon alles sehr merkwürdig. Aber wie gesagt, als schlüssige Geschichte, als Thriller, würde ich das Buch auf keinen Fall betrachten, und auch nicht als solchen weiterempfehlen.

Aber empfehlen würde ich es! Wer „Lolita“ von Nabokov mochte, wird auch hier in den Bann gezogen werden. In den Bann eines Menschen, dem man fast widerwillig gerne zuhört. Und den man doch nicht greifen kann.