Wenn der Schuh drückt ...

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wolfgangb Avatar

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... lernt man entweder, mit dem Schmerz zu leben oder geht daran, die Situation zu beheben. Im Fall von Chefermittler Roy Grace ist der drückende Schuh eine Serie von Vergewaltigungen aus dem Jahreswechsel 1997-98, die niemals aufgeklärt werden konnte und die nun punktgenau zur selben Zeit ihre Fortsetzung zu finden scheint. Heute wie damals zeigt der Täter eine auffällige Affinität zu High Heels, die in seinem Agieren eine zentrale Rolle spielen und das einzige Muster darzustellen scheinen. Ist es derselbe kranke Geist wie damals, der in Brighton gutbetuchten Damen, die sich kürzlich mit modischer Fußbekleidung eine Freude bereitet haben, auflauert, oder handelt es sich um einen mit der Polizeiarbeit wohlinformierten Nachahmungstäter? Ist es ein triebhaft Getriebener, oder jemand, der ein krankes Spiel mit seinen Verfolgern treibt? Mit diesen Fragen sieht sich das Team um Grace konfrontiert, die neue Serie ähnelt nämlich jener aus 1997 in abstoßender Weise.

Bereits zum sechsten Mal läßt der britische Autor Peter James seinen Protagonisten Roy Grace gegen das Böse im banal-britisch Alltäglichen antreten. Nach einer Reihe voneinander unabhängiger Romane weiß auch er wie viele seiner Genrekollegen inzwischen die vorteilhafte Vertrautheit einer etablierten Figur schätzen. Treue Leser freuen sich über ein Wiedersehen mit Bekannten, doch auch neu Hinzukommende werden freundlich empfangen, anhand des aktuellen Falles an der schauerlichen Reise in gesellschaftliche und menschliche Abgründe teilzunehmen.

Der zeitliche Aufbau der Handlung erfolgt in zwei parallel zueinander ausgerichteten Ebenen. Nicht nur die Ermittlungen der als Referenz dienenden Gegenwart werden erzählt, sondern auch jene aus dem Jahr 1997, von denen zunächst nur bekannt ist, daß sie im Sande verliefen. Gemeinsam mit Roy Grace untersucht der Leser Tatorte, nimmt an Vernehmungen teil, wird vom schlechten Gewissen in Form wachsender Aktenberge geplagt. Obwohl im Erzählfokus kapitelweise zwischen Ermittlern, möglichen Tätern und den Opfern der Vergewaltigungen gewechselt wird, bringt es Peter James fertig, den Rezipienten in keinem Moment die Freude eines Wissensvorsprungs gegenüber dem Protagonisten zu erleben. Dieser Kunstgriff verstärkt somit die Indentifikation, reduziert die Distanz zum Geschehen, erzeugt Spannung. Daß die gewählte Form auch den Inhalt stützt, verrät folgendes Zitat, das sich Roy Grace als Motto erwählt hat: "Bei ungelösten Fällen nutzt man die Kriminaltechnik von heute, um die Verbrechen von gestern zu lösen und die Verbrechen von morgen zu verhindern."

Auch beim formalen Aufbau kommt dem Autor seine Erfahrung aus dem cineastischen Bereich zugute, orientiert sich doch dieser an einem packenden Drehbuch. Der Roman ist in 124 kurze Kapitel gegliedert, in denen jeweils eine Figur aus der auktorialen Perspektive begleitet wird. Im Titel jedes Abschnitts findet sich eine Zeitangabe wieder, was die Einordnung der Ereignisse nicht nur erleichtert, sondern geradezu anstachelt, die chronologische Abfolge der Szenen immer wieder vor- und zurückblätternd richtig zu erfassen.

Gerade, weil das Jahr 1997 möglicherweise im Bewußtsein des Rezipienten nicht mehr in der Form präsent ist, wie es der Roman erfordert, steuert der Autor bewußt an markanten Orientierungspunkten vorbei, um Assoziationen zu wecken. Aus britischer Sicht ist der Tod Prinzessin Dianas wohl das prägende Ereignis des betreffenden Jahres, begleitet von Elton Johns überarbeiteter Version von "Candle in the Wind", das viele noch im Ohr haben.

Parallel dazu werden aber auch ähnliche Wegpunkte genutzt, um die zweite Zeitebene in der Gegenwart zu verorten. Die Finanzkrise, Gordon Brown, aber auch technische Erscheinungen wie Facebook, Twitter und das iPhone zählen dazu.

Zur Einfindung in die Geschichte wirkd die gewählte Struktur etwas hinderlich, da die zeitlichen Perspektivenwechsel und jene nach Figuren dem Leser erhöhte Aufmerksamkeit abverlangen. Außerdem wirkt die Präsentation mehrere möglicher Verdächtiger zuweilen erzwungen, aufgesetzt. Dennoch vermag es der Autor, mit unerwarteten Wendungen zu überraschen, sodaß sich als Gesamteindruck nur eines festhalten läßt: "Du Sollst Nicht Sterben" ist ein fesselndes Stück Krimiliteratur, das nach einigen zaghaften Schritten in High Heels trittsicher den Leser in seinen Bann schlägt und bis zum Ende nicht mehr losläßt. Eine besondere Würze verleiht der Lektüre zudem das augenzwinkernde Spiel mit britischen Stereotypen.