Du

Licht und Schatten, Harmonie und Chaos

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buecherfan.wit Avatar

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Du weißt eigentlich auch auf Seite 575 noch nicht wirklich, warum der Roman den Titel “DU” hat , es sei denn, der Autor wollte auf seinen extravaganten Gebrauch der Personalpronomen, speziell der zweiten Person Singular, hinweisen. Doch dazu später mehr.

Der Roman hat drei Handlungsstränge. Da gibt es einmal den Reisenden, der scheinbar ohne Motiv eine große Zahl von Menschen tötet, immer wieder, an verschiedenen Orten, unter ganz verschiedenen Umständen, und er kommt immer unerkannt und ungestraft davon. Dann ist da der sogenannte Logist Ragnar Desche mit seinem Mentor und Partner Tanner, seinen Mitarbeitern Leo und David, seinem Bruder Oskar und seinem Sohn Darian. Ragnar ist ein Krimineller, der alles Mögliche liefert und lagert, im großen Stil mit Drogen handelt und eiskalt tötet, wenn es sein muss. Und dann sind da noch fünf sechzehnjährige Mädchen, die eng befreundet sind und bedingungslos für einander einstehen. Oskars zunächst ungeklärter Tod und das zeitgleiche Verschwinden von Ragnars bei Oskar gelagerten Drogen löst eine Serie von Ereignissen aus, die am Ende (fast) niemand mehr kontrollieren kann. Während die Handlungsstränge um Ragnar und Oskar einerseits und die fünf Mädchen andrerseits ziemlich früh verknüpft werden, weil Oskars Tochter Taja eins der fünf Mädchen ist, weiß der Leser lange nicht, an welcher Stelle der mordlustige Reisende ins Spiel kommt. Doch diese drei Personengruppen und eine Vielzahl von Nebenfiguren werden tatsächlich in die mörderische Geschichte von Flucht und Verfolgung hineingezogen. Es gibt viele Tote - allein der Reisende hinterlässt eine Strecke von fast 200 Leichen - , und keiner der überlebenden Mitspieler ist am Ende noch derselbe wie zu Beginn.

Es geht in diesem Roman nicht nur darum, dass Ragnar Desche seine Drogen im Wert von mehreren Millionen zurückhaben und seinen Bruder Oskar rächen will, es ist eine komplexe Geschichte mit vielen Themen: Familien- und Liebesbeziehungen, das Verhältnis von Vätern zu ihren Söhnen und - in geringerem Umfang - zu ihren Töchtern, Erziehung, Freundschaft und Liebe, Treue und Verrat...

Drvenkar hat einen überaus komplizierten, vielschichtigen Roman geschrieben. Das Interessanteste an diesem Autor ist seine raffinierte Erzähltechnik. Wie viele Leser es schon aus “Sorry” kennen, wechselt die Erzählperspektive ständig, und jedes Kapitel ist mit dem Namen des Protagonisten bzw. der Protagonistin überschrieben, aus deren Perspektive erzählt wird. Sogar der tote Oskar ist mit seinen Gedanken und Gefühlen noch lange präsent, auch wenn er nicht mehr aktiv in das Geschehen eingreifen kann (“Und hier kommt dein letzter Gastauftritt. Du bist noch immer auf Sendung, auch wenn der Empfang wirklich miserabel ist.“ S. 262). Drvenkars Spezialität ist der Gebrauch der zweiten Person, wo der Leser eigentlich die erste erwartet. Dies gilt für die narrativen Passagen. Die erste Person Singular benutzt der Autor in den kursiv wiedergegebenen Gedanken und Gefühlen seiner Figuren. Ansonsten kommt die erste Person nur in den Dialogen vor. Hier ist auch der Gebrauch der anderen Pronomen der übliche. Mit der ersten Person Plural meldet sich der auktoriale Erzähler im Pluralis Majestatis zu Wort (“Wir schreiben jetzt nicht das genaue Datum, das kann jeder selbst recherchieren.”). Er hat eine eigene Stimme, steht über den Ereignissen, die er von außen betrachtet, und ist allwissend. Er wirkt wie ein Spielleiter, der seine Figuren nach Belieben auf- und wieder abtreten lässt. So sagt er über Neil Exner, den Enkel eines Gangsters, mit dem Ragnar Desche fünfzehn Jahre zuvor Geschäfte gemacht hatte: “Auch dich müssen wir (!) jetzt gehen lassen. Du warst unser spezieller Gast, gestohlen aus einer anderen Geschichte, hineingeworfen in dieses Chaos. Ohne dich wäre alles anders gelaufen, ohne uns (!) wüsste keiner, wie sehr du dich verändert hast. Wir haben dich wachsen sehen und jetzt ist es an der Zeit, dass wir dich verabschieden.“ (S. 562).

Erzählt wird zudem in zeitlichen Sprüngen und zahlreichen Rückblenden. Einige Episoden werden mehrfach aus unterschiedlicher Perspektive erzählt. In den Rückblenden wird die Vorgeschichte der meisten Figuren nachgeholt, und nur so wird für den Leser deutlich, was zu dem Chaos und der Zerstörung geführt hat, von denen der Roman handelt.

Es ist ein außergewöhnlicher, manchmal etwas anstrengender Roman, auf den der Leser sich geduldig und aufmerksam einlassen muss. Dann wird die Lektüre zu einem ganz besonderen Erlebnis..