Eine amerikanische Kindheit

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Mitten im tiefsten Texas herrschen 1958 im fiktiven Dewmont unumstößliche Vorstellungen, was sich gehört und was nicht. Man flucht nicht, heiligt den Sonntag, Kinder gehorchen ihren Eltern und niemand hat ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen schwarzen Angestellten zu haben. Der Vater des Icherzählers Stanley, die Nase voll von Autoreparaturen und Motorenöl, weicht vom vorgezeichneten Weg ab, als er sich einen Traum erfüllt und ein Autokino kauft. Mit dem Kino übernimmt er Buster, den betagten schwarzen Filmvorführer. Der 13-jährige Stanley, der bis zu diesem Sommer noch an den Weihnachtsmann geglaubt hatte, sieht sich Schlag auf Schlag mit der Realität konfrontiert. Stan erfährt unfreiwillig, was es mit Sex auf sich hat, und er wird mit Gewalt und Vernachlässigung konfrontiert, die seinen Freund Richard und das Hausmädchen Rosy Mae betreffen. Hinter dem Autokino findet Stan in der Nähe eines verfallenen Hauses ein Bündel alter Liebesbriefe, ein Anreiz für ihn, an endlosen Ferientagen nach der Identität von Sender und Empfänger der Briefe zu forschen. An den Brand des Hauses einige Jahre zuvor und zwei ungeklärte Todesfälle im Ort kann sich jeder in Dewmont noch erinnern. Mit Busters Hilfe, der seine Weisheiten aus Sherlock-Holmes-Geschichten bezieht, lässt Stan sich auf ein gefährliches Abenteuer als Detektiv ein. Stans Kindheit geht mit der Einsicht zu Ende, dass es gegen die Gewalt keinen Schutz gibt, die wie durch einen finsteren Riss von außen in die Familienidylle eindringt.

Stanleys Erwachsenwerden in jenem denkwürdigen Sommer konfrontiert ihn mit Gewalt, Rassismus und Frauenverachtung in einem heute nur schwer vorstellbaren Ausmaß. Stans Vater lehnt zwar Gewalt gegen Frauen und Kinder ab, trägt seine Auseinandersetzungen mit Männern jedoch äußerst gewalttätig aus. Stans Mutter zeigt beinahe schon klischeehafte Güte und Hilfesbereitschaft, indem sie von Rosy Mae bis zu Stans Freund Richard jeden aufnimmt und durchfüttert, der Opfer von häuslicher Gewalt geworden ist. Die Mutter lässt deutlich durchblicken, dass sie Frauen für mitschuldig hält, die die Gewalt ihrer Ehemänner ohne Gegenwehr erdulden.

Diese Lizenzausgabe einer Ausgabe des Golkonda Verlags durch den Suhrkamp Verlag (der Originaltitel erschien 2003) war das erste Buch von Joe R. Lansdale, das ich gelesen habe. Die Entdeckung eines bisher unbekannten Autors ist für mich immer wieder ein beeindruckendes Erlebnis, ähnlich der Situation, wenn man als Kind ungestört ein komplettes Abenteuerbuch verschlingt.

Der Erzählton anrührender Kindheitserinnerungen, der den Roman kennzeichnet, wandelt sich zum Ende des Buches. Nun lauscht man einem erwachsenen Erzähler, dem die Vergangenheit inzwischen wichtiger geworden ist als die Gegenwart, und von dem zu hoffen ist, dass er die Widersprüchlichkeit der damaligen Moralvorstellungen inzwischen durchschaut. Lansdale beschreibt authentisch und anrührend das Erwachsenwerden eines 13-Jährigen im amerikanischen Süden während der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts und schafft Lesern der Gegenwart damit Zugang zu einer fremden Welt.