Ein Gentleman lernt nie aus

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borstelmaus Avatar

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Alexander Iljitsch Rostov, im Verlauf des Romans oft einfach nur als „der Graf“ bezeichnet, wird zu lebenslänglichem Arrest im Moskauer Hotel Metropol verurteilt. Diesen darf er mitnichten in seiner luxeriösen Suite verbringen, umgeben von Familienerbstücken, stattdessen ist der Graf in eine winzige Kammer unter dem Dach verbannt, mit einigen wenigen Habseligkeiten, die ihm noch gelassen werden.

Das Cover des Buches passt nicht ganz zur Beschreibung der für den Grafen gefühlt briefmarkengroßen Öffnung in seinem neuen Domizil, vielmehr ist es wohl der letzte Blick auf die geliebte Freiheit, derer er auf unbestimmte Zeit entsagen muss. Allerdings gibt sich Alexander Rostov keiner Verbitterung oder Rachegedanken hin, er versucht lieber Herr seiner Umstände zu sein, statt von ihnen beherrscht zu werden. Wie er das unter anderem mithilfe der geretteten literarischen Wälzer seines Vaters tun will, ist höchst amüsant beschrieben. Immer aufgeschoben, ist jetzt wohl die rechte Zeit zum Lesen dieser gekommen, aber die Minuten dehnen sich wie Stunden und Ablenkung wird sehnlichst erwaret.

Der Graf ist ein genauer Beobachter, bildet sich immer seine Meinung, behält diese aber, eben wie ein Gentleman, sehr oft für sich. Dabei bleibt er immer charmant, offen für neues und ehrlich sich selbst sowie anderen gegenüber. Er ist ein Meister der Diplomatie. Das zeigt sich im Umgang mit dem neunjährigen Mädchen Nina, wenn es um das Erforschen neuer Welten durch geheime Türen und versteckte Räumlichkeiten geht. Oder bei der Erstellung der Sitzordnung für ein Bankett mit verschiedensten Politikern, welcher am Ende einer ausgeklügelten Choreografie gleicht, damit in diesem Minenfeld niemand zu Schaden kommt und jedes Ego gestreichelt ist.

Der Klappentext verrät, dass Alexanders Leben eine Veränderung erfährt, als ihm eine alte Freundin ihre Tochter anvertraut. Das geschieht allerdings erst etwa in der Hälfte des Romans, bereits vorher ist die erwähnte Nina in das Leben des Grafen getreten und wirbelt dieses ordentlich durch. Wer bringt hier wem etwas bei, wenn es um „Bitte“ und „Danke“ geht? Oft lässt Nina den Grafen sprachlos zurück, beide sind sich aber ebenbürtige Partner und lernen jeweils vom anderen.

Im Verlauf des Romans trifft der Graf dann wiederum auf ein junges Mädchen, hier lernt er ebenfalls nur dazu, während er sich doch in der Rolle des Erziehers sieht und später sogar die Vaterrolle übernimmt.

Dieser Roman enthält so viele tolle Passagen, dass ich oft länger innehalten und diese sacken lassen musste. Einerseits wird die russische Geschichte leicht, verständlich und amüsant erklärt, etwas, was mich vorher eher weniger interessiert hatte und durchaus einige Schwierigkeiten bereiten kann. (Als Beispiel dienen hier der Begriff „Genosse“, diverse Zitate russischer Schriftsteller oder die wirklich witzigen Fußnoten.)
Andererseits gerät der Graf oft in Situationen, die als Fazit einiges an, teilweise augenzwinkernden, Lebensweisheiten parat haben, zum Beispiel wenn es um den ersten Eindruck eines Menschen geht, den wir gerade mal eine Minute erlebt haben. Oder die Definition von Cocktails (S 371).

Gegen Ende nimmt die Handlung meiner Meinung nach nochmal einiges an Fahrt auf, nur leider hat mich das Finale etwas ratlos zurückgelassen. (Entweder habe ich es einfach nicht verstanden oder etwas Wichtiges überlesen.)
Ja, der Roman hat auch Passagen, die mitunter vielleicht lang wirken können, aber es lohnt sich in den Worten, die Autor Amor Towles findet, zu schwelgen. Allein deswegen ist die Lektüre ein Genuss, und nebenbei lernt man noch eine Menge dazu.