Tolle Erzählkunst!

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
laberlili Avatar

Von

Ich gebe zu, dass ich gar nicht erwartet hatte, dass mir dieser Roman so gut gefallen würde, obschon ich definitiv von vornherein mit keinem Reinfall gerechnet hatte. Aber ich war doch besorgt, dass sich die Geschichte letztlich sehr in all den politischen Unruhen und gesellschaftlichen Umbrüchen vor den Türen des Hotels verheddern würde, aber „Ein Gentleman in Moskau“ ist völlig konzentriert auf diesen Landadligen und sein Dasein im Hotel Metropol, in welchem er sich vom noblen Gast notgedrungen, aber auch voller Raffinesse in neues, gesellschaftlich eher geächtetes Dasein einfügt, ohne tatsächlich geächtet zu werden, denn fortan ist er trotz des neuen Mitarbeiterstatus ein respektiertes Bindeglied zwischen den sich immer stärker auflösenden Gesellschaftsschichten.
Graf Rostov ist ein echter Gentleman, wahrlich stilvoll, und seine Hingabe an diese Eleganz zeigt sich sehr überraschend vor Allem zum Schluss, wenn er eher beiläufig bekundet, was er (nie) getan habe und damit seinen seit Jahrzehnten andauernden Hausarrest prinzipiell eher ad absurdum führt und damit die immense Loyalität, der er sich immer ergeben hat, erst enthüllt. Dieses „Geständnis“ fand ich wahrlich verblüffend und zugleich wurde es so kurz und eher nebenher angesprochen, dass mir dessen tatsächliche Bedeutung erst einige Seiten später plötzlich durch den Kopf schoss.
Ich fand Rostov eine sehr angenehme Hauptfigur; er ist sehr leger, sehr anpassungsfähig und hadert hier nie mit seiner persönlichen Situation, begegnet den gegenwärtigen Veränderungen mit Neugier, teilweise auch mit besonderer Raffinesse. Das gesamte Leben im Hotel ist so lebensecht dargestellt, dass man sich nahezu selbst in die Szenerie versetzt glaubt; die erzählerische Atmosphäre erinnerte mich stark an die Aura der Gegenwart, von welcher der Film „Grand Hotel Budapest“ erzählte: schick, zurückhaltend, vom äußeren Wandel geprägt, aber voller inniger Beziehungen.
„Ein Gentleman in Moskau“ ist einfach ganz wunderbar erzählt, ein Zeugnis guten Benehmens sowie Respekts, ein Schriftstück voller tiefgründigerem Interesse und letztlich der Spiegel eines Umgangs, wie man ihn der Menschheit untereinander gerne wünschen würde; Zusammenhalt auch unter widrigen Umständen und das Bemühen, immer das Beste aus den gegebenen Situationen zu machen, welche man nicht so einfach verändern kann. Zugleich ist aber auch ein Aufruf enthalten, sich gegen das aufzulehnen, was man niemals zu akzeptieren bereit ist und füreinander einzustehen.
Ich habe diesen Roman sehr, sehr gerne gelesen; der Inhalt hallt nach, ohne zu bedrücken, ohne zu erdrücken, ohne zu ängstigen, aber man möchte das Gelesene doch nochmals reflektieren. Zumindest erging es mir so und ebenso erging es mir so, dass es mich letztlich ein wenig überraschte, dass die Printausgabe 560 Seiten beinhaltet. Ich fand das erzählte so kurzweilig geschrieben, dass ich kaum drei Abende daran gelesen habe.
Würde man in diesem Jahr „Lesetipp“-Stempel mit dem zusätzlichen Druck „Literarisch wertvoll“ auf Bücher stempeln wollen, wäre „Ein Gentleman in Moskau“ sicherlich auf Seiten der Romane, die diesen Aufdruck verdienten!

Da mir der Roman im eBook-Format als Rezensionsexemplar bereitgestellt worden war, bin ich mir unsicher, ob der Satz tatsächlich dem nun letztlich vertriebenen digitalen Exemplar entspricht: Sollte das Endprodukt tatsächlich mit meinem Vorab-Exemplar identisch sein, ist das Problem der Fußnoten allerdings unbefriedigend gelöst. Nahezu jedes Kapitel beinhaltet zumindest eine „Sternchen-Erklärung“, welche dem Kapitel letztlich angehängt ist, aber zumindest im Falle meines Rezensionsexemplars waren Sternchen und zugehörige Erläuterung nicht verlinkt, so dass ich häufig am Ende eines Kapitels Erläuterungen vorfand, von denen ich nicht mehr wusste, worauf sie sich eigentlich bezogen. Besondere Verständnisprobleme haben sich zwar nicht vor mir aufgetan, aber diese „Zusammenhanglosigkeit“ bzgl. der Fußnoten fand ich in meinem digitalen Rezensionsexemplar dann doch schon ein wenig ärgerlich. Dies ist aber auch mein einziger echter Kritikpunkt, wobei ich letztlich aber ohnehin keine tatsächlichen Verständnisschwierigkeiten hatte. Dennoch hätte ich mir da auch in meinem digitalen Leseexemplar ein wenig mehr „Kopplung“ zwischen den betreffenden Textstellen und den entsprechenden Erläuterungen gewünscht.