Rakel und Ella

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sissidack Avatar

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Bereits die Leseprobe des Romans hatte mir sehr gut gefallen. Als das Buch bei mir ankam (übrigens vielen Dank), war ich total erfreut und habe am gleichen Abend den Roman als Bettlektüre begonnen. Ich erwartete: Unternehmerehepaar tödlich verunglückt; einzige Tochter lebt in den USA und; erbt das Familienunternehmen; eventuell führt sie die Familientradition fort und leitet die Firma. Weit gefehlt. Die reiche Erbin, Ella Sand, entpuppt sich als bodenständige, unabhängige junge Frau. Sie ist aufgrund ihrer Erziehung und des Klimas in der Umgebung der Eltern eher verschlossen. Sie hat Probleme, selbst ihrem Lebensgefährten ihre Gefühle zu offenbaren. Nach dem tragischen Unfall ihrer Eltern, zu denen sie den Kontakt fast vollkommen abgebrochen hat, muss sie zur Regelung des Nachlasses zurück in die alte Heimat nach Norwegen. Ihre Tante empfängt sie mit einer Mischung aus Zurückhaltung, Trauer, Vorsicht und verborgener Zuneigung. Sie entwickelt sich zur lieben Verbindung Ellas zu ihrem Heimatland.
Ella hat u. a. die Entscheidung zu treffen, was mit der elterlichen Villa geschehen soll. Mit gemischten Gefühlen betritt sie das Haus ihrer Kindheit. Längst vergessen geglaubte Emotionen werden empor- gespült. Die Autorin schafft das, ohne das Geschehen mit Traurigkeit zu überladen. Nun trifft Ella auf die Mieterin der Wohnung im Elternhaus. Rakel ist gekonnt charakterisiert. Der Leser empfindet sie sofort als Frau, die viel erlebt hat. Sie ist selbstsicher und bestimmend, ohne Ella zu etwas zu zwingen. Alles lässt sie erscheinen, als ob Ella eigene Entscheidungen treffe. Rakel versteht es durch Andeutungen und vorsichtige Annäherung Ella zu Besuchen bei ihr zu ermutigen. Während dieser gemeinsamen Stunden erzählt Rakel ihre Lebensgeschichte.
Angefangen mit ihrer Kindheit im Bratislava zur Zeit der Judenverfolgung im 3. Reich, über die Entscheidung der Eltern die Kinder Rakel und Aron vor den Nazis in Norwegen bei einer Pflegefamilie in Sicherheit zu bringen. Rakel und Aron sollten die Eltern nie wieder sehen. Eine bewegte, schwere Kindheit folgt. (Interessant und jede Seite mitreißend!) Rakel verliebt sich. Ihre erste Liebe wird zur Enttäuschung. Das Kind, welches sie erwartet, gibt sie auf Drängen der Familie ihres Freundes zur Adoption frei. Später heiratet sie. In der Ehe, in der Rakel nicht glücklich ist, wird sie Mutter eines Sohnes namens Erik und einer Tochter mit Namen Maria. Sie beschließt heimlich, ohne ihren Ehemann, aus Norwegen nach Amerika auszuwandern. Es gelingt. Rakel kämpft sich "im Land der unbegrenzten Möglichkeiten" mit den beiden Kindern durch. Sie hat gelernt zu kämpfen. Rakel findet liebenswerte Menschen, die ihr helfen. Sie arbeitet tagsüber und studiert am Abend. Mit Fleiß schafft sie es Lehrerin zu werden. Nun trifft sie auch den Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen wird. Um noch einmal die Stätten ihrer Kindheit zu sehen, reist sie nach Norwegen und mietet sich in der Wohnung von Ellas Eltern für einige Zeit ein. Hier treffen sich die beiden Frauen Rakel und Ella. Langsam werden sie vertraut miteinander. - So, dachte ich, brillante Darstellung von zwei Leben, die wie Euphrat und Tigris nebeneinander herlaufen und sich zufällig getroffen haben. Jetzt klingt der Roman aus, vermutete ich. Wieder falsch! Noch ein Höhepunkt. Rakel eröffnet Ella vorsichtig, dass sie ihre Großmutter ist. Ellas Mutter ist das erste Kind von Rakel, welches sie zur Adoption freigeben musste. Nicht überschwänglich, nicht dramatisch sondern einfach schön beschreibt die Autorin dieses schwierige Geständnis einer Großmutter an die Enkelin. Rakel und Ella bemerken das zarte Band, welches sie verbindet und langsam an Stärke gewinnt. Gemeinsam wollen sie zurück nach Amerika reisen. Alles ist bereit. Ella will Rakel zur Abfahrt abholen. Sie findet die Großmutter in der Wohnung. Rakel liegt am Boden. Sie stirbt im Arm ihrer Enkelin. Gefühlvoll wie diesen Schlussabschnitt empfinde ich das ganze Buch. Ein zwischenmenschliches Verstehen zieht sich durch den gesamten Roman.
Ich bin wirklich ein "Immerzu-Leser", doch ein solch schöner Roman ist mir - wenn überhaupt - nur selten begegnet. Hingerissen vom Stil, dem Aufbau und dem unerwarteten Ende empfinde ich Traurigkeit und gleichzeitig ein Gefühl von Hoffnung für die Zukunft von Ella.
Sehr, sehr schön. Hoffentlich kann die Autorin in folgenden Werken an diese Qualität anknüpfen. Danke von einer begeisterten Leserin.