Die Währung des Lebens

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hennie Avatar

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Der Roman "Ein neues Blau" wird im wesentlichen bestimmt durch die Lebensgeschichte der Lili Kuhn, die 1912 in Berlin zur Welt kommt. Der Vater Jakob ist Jude, die Mutter Charlotte Christin. Doch der Glaube spielte keine Rolle. Sie führen eine kurze glückliche Ehe bis Charlotte 1919 an der Spanischen Grippe verstirbt. Lili wächst zwar in wohlhabenden Verhältnissen auf, aber anders als die große Mehrheit. Sie lebt mit ihrem Vater, dem japanischen Geschäftsfreund Takeshi, der preußisch-jüdischen Haushälterin und dem Hund namens Hund (Bezug zum Cover) zusammen.
Lili hat lange Zeit große Probleme wegen der Selbstfindung. Sie meint alles nur halb zu sein, nirgendwo richtig dazu zu gehören.

[S. 135] „Sie ist weder Jüdin, noch Christin; ebenso wenig Japanerin...Sie ist ein Kind ohne Mutter. Tochter mit einem abwesenden Vater. Ihr Halbsein macht sie aus. Aber strebt nicht jeder Mensch nach Ganzwerdung?“

In der Folge ihrer Entwicklung findet sie durch einen glücklichen Zufall ihre Bestimmung in der Welt des Porzellans. Diese bleibt ihr ständiger Zufluchtsort. Sie gibt ihr Ruhe und Frieden, die innere Sicherheit.
Die Lebensgeschichte Lilis erfährt der Leser durch die Rahmenhandlung, die 1985 in Berlin spielt und durch die junge Anja Hermann vertreten wird, die dasselbe Gymnasium wie Lili besucht. Das natürlich zu unterschiedlichen Zeiten! Ihr Lehrer vermittelt die Schülerin zu der alten Dame, um ihr etwas Gesellschaft in ihrem Alleinsein zu leisten. Die Annäherung der Beiden erfolgt zögerlich und es gibt im Verlauf des Buches nur wenig Berührungspunkte zwischen ihnen. Leider wird sehr wenig über Anja und Lili berichtet, wie sie einander näher zu kommen scheinen. Dabei hat das junge Mädchen gerade eine ziemlich schwierige Phase in ihrem Leben durchzustehen. Das wurde, so finde ich, im Gegensatz zu vielen anderen Themen nicht genügend herausgearbeitet.
Auf der anderen Seite führt der Autor Tom Saller den Leser bilderreich und ausdrucksvoll durch verschiedene zeitgeschichtliche Inhalte (angefangen bei Friedrich dem Großen – seine Lieblingsfarbe war bleu mourant, daher der Titel des Romans), durch Kulturen und Religionen, thematisiert das Judentum, die Welt des Porzellans und die Kunst der japanischen Teezubereitung. Er zeigt das Leben der Halbjüdin Lili zwischen Tradition und Moderne, wobei das Private zwar berührt, aber irgendwie auf Distanz bleibt. So war mein Empfinden!

Das Buch beinhaltet die lebendige Schilderung der Zeit durch das Leben der Lili Kuhn mit den vielen Schicksalschlägen, ihren Schuldgefühlen, den furchtbaren Ereignissen der Nazizeit, die Flucht ins USA-Exil, die Rückkehr nach Deutschland. Dabei trifft man auf historische Persönlichkeiten wie dem Direktor der KPM, Baron Günther von Pechmann, und bedeutende Künstler wie Marguerite Friedländer, Erwin Hahs, Gerhard Marcks, Hans Finsler.

„Ein neues Blau“ ist eine unterhaltsame Erzählung über einen bewegten Teil deutscher Geschichte, die durch die Geburt der Eltern von Lili etwa ab Ende des 19. Jahrhunderts beginnt und 1985 durch das Aufeinandertreffen von Lili und Anja endet.

Ich empfehle das Buch und bewerte mit vier von fünf Sternen.