Ein Rückblick auf ein bewegtes Frauenschicksal

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Als ich im Klappentext las, dass in dieses Buch auch interessante künstlerische Themen  wie z.B. die Porzellanherstellung und Elemente der japanischen Kultur eingeflochten sind, fühlte ich mich angesprochen.

Tom Saller führt in seinem Roman  "Ein neues Blau" nicht nur durch die Lebensgeschichte einer Frau jüdischer Herkunft im 20. Jahrhundert, er reißt dabei einige künstlerische Themen an.

Im Berlin des Jahres 1985 prallen zwei sehr eigenwillige Persönlichkeiten aufeinander, die doch unterschiedlicher kaum sein können. Die feine alte Dame Lili Kuhn lebt sehr zurückgezogen im Haus mit dem japanischen Teehaus im Garten. Da klopft plötzlich und unaufgefordert Schülerin Anja an ihre Tür und stellt sich als persönliche Gesellschafterin vor. Der Direktor ihrer Schule hatte Anja für diesen kleinen nachmittäglichen Nebenjob als geeignet ausgewählt. Während Anja sich noch zwischen dem Scheidungswunsch ihrer Eltern und Selbstfindungsproblemen hindurch kämpfen muss, hat Lili mit ihrer komplizierten Lebensgeschichte fast abgeschlossen. Beide interessieren sich füreinander mit all den jeweiligen Widersprüchen. So beginnt Lili der jungen Anja ihre Lebensgeschichte anzuvertrauen.

Lili begleitet schon seit früher Kindheit das Gefühl, kein Ganzes sondern nur „halb“ zu sein: Halbwaise, Halbjüdin. An all ihren Verlusten fühlt sie lebenslang eine tragische Mitschuld. So starb Ihre Mutter an der Spanischen Grippe, mit der sie Lili als Sechsjährige angesteckt hatte.

Beide Eltern, die christliche Mutter Charlotte, wie auch der Vater Jakob mit  jüdischer Herkunft, haben ihre familiären Bindungen komplett hinter sich gelassen. Jakob änderte seinen Nachnamen Cohen in Kuhn, als der seine berufliche Tätigkeit als Teehändler aufnahm. Erst nach dem frühen Tod seiner Frau befasst sich Jakob mit seiner Identität als Jude und nimmt Kontakt zu einem Rabbi auf. Dieser unterrichtet auch die kleine Lili im jüdischen Glauben.

Liebevoll aufgezogen wird Lili nicht nur von ihrem Vater, sondern auch von Takeshi, dem chinesisch-japanischen Freund und Geschäftskollegen Jakobs, der viel Verständnis für die Entwicklung des Kindes aufbringt. Nach dem Tod von Jakobs Frau ist er von Japan nach Berlin übergesiedelt, da Jakob beruflich viel auf Reisen im Ausland ist.

Schon in Lilis Kindheit spielt so die japanische Teezeremonie und Kultur eine große Rolle. Der Zufall bringt sie als junge Erwachsene in den Kontakt zu führenden Persönlichkeiten der Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur. Das Malen, Töpfern und der Umgang mit Porzellan begleiten Lili durch die folgenden Jahre in der Berufsfindung und Ausbildung.

Lili durchlebt die Weimarer Republik und die Anfangsjahre des Dritten Reiches in Deutschland, Zeitumstände, die ihr Leben sehr beeinflussen. 1935 muss sie schließlich mit ihrem jüdischen Mann in die USA fliehen.

Mein Fazit:
An diesem Buch verlockte mich auf den ersten Blick der Titel „Ein neues Blau“, das Cover hingegen traf überhaupt nicht meinen Geschmack. Gut, man findet darin drei Anknüpfungspunkte, die den Inhalt des Romans betreffen: ein Hund spielt eine kleine Rolle, ein Mädchen ist Protagonistin, die Farbe Blau ist titelgebend, deshalb das blaue Shirt. Irgendwie wirkt es doch recht einfallslos.

Die ganze Geschichte hat auf mich einen recht konstruierten Eindruck gemacht. Zum Schmunzeln brachte mich dabei z.B. der arme Hund, der am seinem Ende über 20 Jahre alt sein musste, um die Kindheit des Mädchen Lili zu begleiten. Welch ein biblisches Alter.

Der Roman weist zwei Zeitebenen auf: 1985, hier erzählt die 18jährige Schülerin, die die alte Dame Lili als Gesellschafterin unterhalten soll. Der größte Teil des Romans besteht aus Rückblicken auf die Lebensgeschichte der Lili Kuhn, die ein allwissender Erzähler übernimmt. Der Erzählton der Schülerin ist anfangs in recht schnoddrigem, pubertärem Jugendjargon, der sich später etwas mäßigt.

Der Charakter und die Entwicklung der Lili Kuhn wird in den langen Rückblicken sehr genau ausgeleuchtet. Das Mädchen Anja lernt man eher schlaglichtartig kennen.

Interessant sind die Ausflüge in die japanische Tee- und Gartenkultur, wie auch in die Geschichte der Porzellanherstellung und der Königlichen Porzellan Manufaktur Berlin. Das Leben in der Weimarer Republik und zur Zeit des Nationalsozialismus wird kenntnisreich dargestellt.

Der Autor packt sehr viel in seinen Roman: er lässt verschiedene Kulturen und Religionen aufeinandertreffen, reißt künstlerische Themen wie Porzellangestaltung und Bauhaus an, entwirft psychologische Entwicklungen und Krisen, initiiert das Aufeinandertreffen ganz unterschiedlicher Generationen, malt das dramatische zeitpolitische Szenario aus.

Die vielen Aspekte des Buches fand ich interessant, allerdings konnte ich mich in keiner Weise mit den Protagonisten emotional verbinden. Vieles wirkte mir zu konstruiert.

Dabei geht Tom Saller doch in seinem Prolog von einer zarten kleinen Schale mit einer schlichten Blüte, aufgemalt im neuen „bleu mourant", dem ins Lila gehenden ersterbenden Blau, aus. Der feine rote Faden, der sich durch die Geschichte ziehen soll. Fast geht er ein bisschen unter.

Wer gern in zeitgeschichtliche Familienromane abtaucht, ist hier gut aufgehoben.