Still, vielseitig und informativ

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
waldeule Avatar

Von

„Ein neues Blau“ hat eine ganz eigene, für mich sehr ungewohnte, aber sehr wohltuende Atmosphäre. Ich habe es als „stilles“ Buch empfunden, da immer wieder ganz bewusst die leisen Momente im Leben von Lili, der Hauptperson, betont werden. Und das, obwohl Lili zwischen den beiden Weltkriegen geboren wird und so in einer sehr ereignisreichen, „lauten“ Zeit lebt. Ich finde es toll, dass der Autor dazu (wohl ganz bewusst) einen Gegensatz setzt und der Text oft ganz leise Töne anschlägt. Damit verbunden ist auch eine gewisse Entschleunigung. Bei bestimmten Schilderungen wie z. B. der japanischen Teezeremonie ist mir aufgefallen, dass ich automatischer langsamer und bewusster lese. Dazu passen auch die kurzen, lesefreundlichen Kapitel, die mich am Ende immer wieder innehalten und meinen eigenen Gedanken nachhängen ließen.

Im Gegensatz zu der Stille ist das Buch aber inhaltlich enorm vielseitig und bringt ganz unterschiedliche Themen zusammen. Japanische, jüdische und deutsche Traditionen treffen aufeinander, Tee und Porzellan spielen eine große Rolle, zeitgenössische Kunst und natürlich auch die Politik finden ihren Platz. Das Buch wirkt dadurch aber nicht überladen, sondern fügt die unterschiedlichen Themen wunderbar zueinander, denn im Mittelpunkt steht immer das junge Mädchen Lili und ihr Aufwachsen. Oft steht in Büchern in diesem Handlungszeitraum der aufkommende Nationalsozialismus im Mittelpunkt. Ich fand es sehr wohltuend, dass es hier nicht so ist, sondern sich die politische Situation in das Gesamtbild einfügt, nicht aber vorherrschend ist.

Daneben gibt es eine Rahmenhandlung, die im Jahr 1985 spielt und in der Lili auf Anregung der Schülerin Anja auf ihr Leben zurückblickt. Auch diese Geschichte rahmt sich wieder perfekt in die Gesamtkomposition ein und ich finde die enge Verzahnung beider Teil am Ende wirklich toll. Ebenso positiv empfand ich die große Tiefe, die das Buch gegen Ende erhält – ein wichtiges Thema ist dabei (vermeintliche) Schuld. Die beiden Zeitebenen und auch die darin enthaltenen Zeitsprünge erfordern aber eine gewisse Aufmerksamkeit, so dass das Buch zum gedankenlosen Lesen nichts ist. Für mich war es auch wichtig, das Buch langsam zu lesen, denn es stecken sehr viele schöne, poetische Sätze und Gedankenanstöße darin.

Nahezu nebensächlich webt der Autor immer wieder sehr viele Informationen in seinen Text ein. Die vielen Themen werden nicht nur angesprochen, sondern es wird auch viel dazu erklärt. Manchen mag dieses Info-Dumping vielleicht stören, ich lerne gern beim Lesen so „nebenbei“ dazu und so fand ich diese Zusatzinformationen immer sehr interessant.

Ein toll komponiertes Buch - einen großen Kritikpunkt habe ich aber dennoch. Für mich bleibt die Beziehung zu Lili etwas auf der Strecke. Man erlebt sie in ihrem Aufwachsen und begleitet sie, doch emotional entsteht wenig Bindung. Mit fehlt dabei vor allem das Innenleben Lilis, es wird alles aus einer äußeren Erzählersicht sehr distanziert geschildert. Dass der Autor es auch anders könnte, zeigen die Kapitel der Rahmenhandlung, denn hier erzählt Anja als Ich-Erzählerin sehr direkt, authentisch und empathisch von ihrem Erleben.

Fazit: Ein schönes, wohltuendes Buch, in dem leider die Emotionalität etwas zu kurz kommt. Trotzdem vergebe ich gerade noch 5 Sterne, weil der Autor es ganz unaufdringlich geschafft hat, sehr viele unterschiedliche Themengebiete perfekt miteinander zu verweben.