Vielschichtiger Porzellanroman

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apomaus Avatar

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Nein, kein historischer Roman wird hier erzählt. Zumindest nicht einer, wie man ihn normalerweise zu lesen bekommt, wenn irgendwie beispielhafte Personen in ihrem geschichtlichen Kontext geschildert werden.
Lili wächst ohne Mutter auf und ihr Vater Jakob, der sie sehr liebt, versucht, alles richtig zu machen. Also kümmert er sich nicht nur selbst voller Liebe um sie, sondern stellt ihr auch noch seinen japanischen Freund Takeshi an die Seite und lässt sie von einer jüdischen Haushälterin erziehen. Zwischen japanischer Teezeremonie und jüdischen Gesetzen wächst sie auf - und das im Vorkriegsberlin. Zufällig macht sie die Bekanntschaft des Direktors der Königlich preußischen Porzellanmanufaktur und entdeckt ihre Liebe zu diesem ganz besonderen Werkstoff. Ihre Lebensgeschichte entwickelt sich tragisch, was nur am Rande mit den Nationalsozialisten zusammenhängt, die sie als Jüdin verfolgen. Schlimmer für sie ist das Trauma, das sie durch den Unfalltod ihres Vaters erleidet. Takeshi und ein Psychologe namens Adam Kuhn schaffen es nicht, sie aus der Starre zu befreien, in die sie daraufhin verfällt.
In der zweiten Zeitebene trifft die gealterte Lili auf ein junges Mädchen namens Anja, die ihre eigenen psychischen Probleme anders zu verstehen beginnt, als sie mit der alten Dame zusammentrifft. Lili Kuhn fasziniert Anja, obwohl sie wie aus einer anderen Welt zu sein scheint.
Tom Saller erzählt zart und fein, wie mit dem Pinsel, der das zarte Blau auf Porzellan tupft. Er vertieft scheinbare Nebensächlichkeiten, verlässt die angedeuteten Handlungsstränge wieder, um woanders anzusetzen und weiterzuerzählen. Das Mädchen Lili wird glaubwürdig in ihrer Suche nach Glück, ihren Ängsten und Schuldgefühlen. Kein typischer Roman, der eine typische jüdische Lebensgeschichte im Nazideutschland erzählen möchte.
Wer offen ist für fein gewobene Erzählstränge und leise Zwischentöne, wer gerne vom Autor mit fast anekdotischer Erzählweise weitergeführt werden möchte, für den ist "Ein neues Blau" ein Kleinod.