4,5 Sterne für ein amüsant, bewegendes Roadmovie mit Tiefgang

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
elke seifried Avatar

Von

Was bringt die 62-jährige Lucia, die an der New York University Gastdozentin ist und ihren Kollegen und Vermieter, den 60-jährigen Professor Richard Bowmaster zusammen, wenn es die chilenische Totenerweckungssuppe nicht schafft? Ganz einfach ein Schneesturm, nicht so einfach ein Autounfall und wirklich problematisch die guatemaltekische Unfallgegnerin Evelyn, die eine fremde Leiche im Kofferraum spazieren fährt, obendrein noch illegal und ohne Papiere im Land lebt und jetzt bei Richard im Wohnzimmer steht.

Die Autorin unterhält den Leser auf unterschiedlichen Zeitebenen. Im Jetzt wird man Zeuge davon, was sich die drei für eine Lösung ihres Problems einfallen lassen, darf mit der Leiche im Kofferraum ein wenig mit ihnen durch die Gegend fahren, auch die Pläne noch einmal umwerfen, und zudem erfährt man ganz zu Ende natürlich auch wie die Tote in den Kofferraum gelangt ist und wer hinter dem Mord steckt. Diese Art Roadmovie ist amüsant stellenweise richtig rührend, entbehrt auch durchaus nicht der Spannung und hat mir gut gefallen. Wobei die Lösung des „Kriminalfalls“ hier deutlich im Hintergrund der Geschichte liegt, eher eine Rahmenhandlung für ausführliche, sorgfältige und gelungene Charakterdarstellungen bietet.

Die Handlung im Jetzt wechselt sich stets mit unterschiedlichen Perspektiven der drei Protagonisten ab, die in Rückblenden von ihrem Leben erzählen. Wer erzählt ist stets mit dem Namen überschrieben, Verwirrungen sind hier also nicht möglich. Während Lucia in Chile nicht nur die Militärdiktatur miterlebt hat, dabei ihre Brüder verloren hat und fliehen musste, musste sich Evelyn ebenfalls auf die Flucht begeben, allerdings vor den Maras in Guatemala, die scheinbar wegen ihres älteren Bruders eine Rechnung mit der Familie offen haben. Hier erfährt man unheimlich viel über die Lebensbedingungen, die Missstände und Probleme in diesen Ländern, über die beschwerliche Flucht und natürlich auch warum die beiden zu dem geworden sind, was sie im Jetzt präsentieren. Das ist wirklich gut gemacht, hat mir auch grundsätzlich wirklich sehr gut gefallen, lerne ich doch beim Lesen gerne dazu. Allerdings hätte mir die eine oder andere Stelle etwas weniger ausführlich genügt, gerade wenn es um Politik, mit Namen die mir nichts gesagt haben, ging oder durch den Glauben etwas mystisch geworden ist. Auch sonst müssen die beiden Damen, genauso wie auch Richard, noch weitere Schicksalsschläge hinnehmen, die das Leben für sie parat hat, bei Vergewaltigung angefangen, über Ehen mit den Falschen, bis hin zu Erkrankungen und ganz viel Abschied nehmen müssen.

„Jäh wurde ihm bewusst, wie klein und eingeschränkt sein Dasein inzwischen war, und da bekam er es mit der handfesten Angst zu tun, weil er so viele Jahre in sich selbst verkrochen vergeudet hatte, weil die Zeit so schnell verging, das Alter greifbar nah kam, der Tod.“ Auch die Botschaft, im Jetzt zu leben, immer das Beste aus dem Leben zu machen, egal wie viele Knüppel einem zwischen die Beine geworfen werden, wird hier toll deutlich, was mir gut gefallen hat. Richard muss das erkennen, Evelyn bekommt die Unterstützung dazu, Luisa lebt es und auch viele versteckte Botschaften der Art, „Bloß die Menschen, Sklaven ihres Egos, würden ewig um sich selbst kreisen, sich beobachten und aufpassen, auch wenn nirgends eine Gefahr drohte.“, sind hier zu finden.

Der flüssige Schreibstil der Autorin liest sich äußerst angenehm und so fliegen die Seiten geradezu. Spitze, pointierte und durchaus oft auch selbstironische Beschreibungen wie „Sie hatte Falten am Hals, trockene Haut und schlaffe Arme, ihre Knie machten ihr zu schaffen, und sie hatte mit ansehen müssen, wie ihre Taille verschwand, weil sie nicht die Selbstdisziplin aufbrachte sich in einem Sportstudio zu schinden.“, sowie amüsante Dialoge wie „Vielleicht war es ein Unfall?“ – „Du meinst sie ist mit dem Kopf voran in den Kofferraum geklettert, hat sich in den Teppich gewickelt, die Klappe ist zugefallen, sie ist erstickt, und keiner hat was gemerkt?“ oder „Was hat der Chihuahua?“ –„Nichts!“ – „Er sieht aus wie tot.“ „So ist das wenn er schläft.“ „Was für ein hässliches Tier“ - „Psst, er hört dich Richard!“, machen das Lesen hier wirklich zum Vergnügen. Isabell Allende vermag den Leser auch emotional einzufangen, schräg, liebenswerte Charaktere, bewegende und schockierende Schicksale sind hier mit viel Gefühl dargestellt.

Den schrulligen Richard habe ich am Anfang so richtig in mein Herz geschlossen. Alles muss bei ihm stets perfekt durchgeplant sein und darf nicht aus dem Raster fallen. So berechnet er sogar den Kalorienbedarf für Ausflüge um bestens gerüstet zu sein, nur für ein spontanes Leben scheint ihm jede Fähigkeit abhanden gekommen zu sein. Ich habe mich richtig mit ihm gefreut, wie er nach und nach auftaut, wobei ich mich dann aber mit seinen Enthüllungen doch schwer getan habe, ihm noch die gleiche Herzenswärme entgegen zu bringen. Vor Lucia ziehe ich wirklich meinen Hut. Sie strahlt so viel Lebensfreude aus und das obwohl, sie wirklich vom Leben die härtesten Prüfungen auferlegt bekommen hat. Durchaus selbstironisch, verbreitet sie mit ihrem Optimismus und ihrer direkten, aber herzenswarmen Art so richtig gute Laune, man muss sie einfach mögen. Evelyn, das zerbrechliche Kindermädchen, hätte ich beim Lesen am liebsten immer tröstend in den Arm genommen.

Dies war mein erstes Buch von Isabell Allende, wird aber definitiv nicht mein letztes bleiben. Denn auch wenn es für fünf Sterne bei mir nicht ganz gereicht hat, hat mich die Autorin wirklich gelungen und auch informativ unterhalten. 4,5 Sterne und auf jeden Fall eine Empfehlung wert.