Der Freund des Opfers...

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mammamia Avatar

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„Romane haben die Eigenschaft, den Leser dazu zu verführen, auf Schlaf zu verzichten!“. So sagt die Figur Victor in Jean – Philippe Blondels neuesten Werk „Ein Winter in Paris“: Und wie recht er in diesem Fall hat.

Victor ist ein junger Student, der aus der Provinz nach Paris gekommen ist, um dort sein Lehrerexamen zu bestehen. Die Lehrerschaft in seinem Lycee schenkt den Studenten nichts und das Aussiebverfahren hat seinen eigenen Regeln. Victor ist unsichtbar. Er hat kaum soziales Leben und versucht sich von seinen Eltern loszusagen, die wenig mit seiner akademischen Laufbahn anfangen können. Nach seinem ersten Jahr lernt er Matthieu kennen und es entwickeln sich zarte Bande einer Freundschaft, bis Matthieu Selbstmord begeht. Plötzlich rückt Victor ins Rampenlicht, da er der Freund des Opfers war. Nicht nur seine Mitstudenten beginnen sich plötzlich für ihn zu interessieren auch mit Matthieus Vater bahnt sich eine Beziehung an, die nicht gerne gesehen wird.

Zunächst muss man vorausschicken, dass die Geschichte in den 80er Jahren spielt. Dies wird zu Beginn des Romans erwähnt und man fühlt sich während des ganzen Lesens in dieser Zeit gefangen. Es gibt keine Handys und keine Computer und man höre und staune, die Studenten kennen alle Bibliotheken, die es in Paris gibt. Für Victor sind sie in seinem ersten Studienjahr sein zuhause. Er verbringt mehr Zeit dort, als irgendwo sonst und er schafft daher, für viele überraschend, seine erste Prüfung und kann daher das zweite Studienjahr wiederbeginnen. Victor würde ich als sympathischen und authentischen Charakter beschreiben. Zunächst habe ich angenommen, dass er aufgrund seiner Zurückgezogenheit doch eher ein Eigenbrötler ist (was er bis zu einem gewissen Grad ja auch ist, aber wer ist das nicht). Und trotzdem gab es Momente in dem Buch, in denen er ziemlich schlagfertig agierte und reagiert. Dies machte ihn doch zu etwas sehr Besonderem. Er ist Dreh – und Angelpunkt der Geschichte. Er steht auf der Schwelle zum Erwachsen – Sein und hat wie jeder andere auch damit zu kämpfen seinen Platz in der Welt zu finden. Zusätzlich kommt bei ihm aber noch der Schicksalsschlag dazu, dass sich Matthieu vom Geländer des Lycee in den Tod stürzt. Victor selbst beschreibt die Beziehung zu ihm nicht wirklich als Freundschaft – es hätte eine werden können, wenn mehr Zeit gewesen wäre. Mit diesem Ereignis beginnt für Victor trotzdem eine neue Zeitrechnung.

Von nun an wird er als Freund des Opfers gesehen und rückt unerwartet in den Mittelpunkt. Mitstudenten, die ihn vorher kaum bemerkt haben, wollen plötzlich mehr Kontakt mit ihm. Mit einer jungen Studentin, die er nur von Ferne bewundert hat, lässt sich auf eine Affäre mit ihm ein. Victor scheint ab diesem Zeitpunkt noch verwirrter. Wer will er sein? Will er wirklich der Freund des Opfers sein? Andererseits gefällt ihm die plötzliche Aufmerksamkeit und er weiß sie auch für sich zu nutzen. Als dann auch noch Matthieus Vater auf den Plan rückt, entspinnt sich zwischen den beiden ein besonderes Band. Der Vater sieht Victor als Bindeglied zwischen ihm und seinem verstorbenen Sohn und will herausfinden, was er als Vater verabsäumt hat. Er beginnt daher mit Victor eine Vater – Sohn – Beziehung, wie sie im Bilderbuch steht, bis Matthieus Mutter einen Strich zieht.

Das Buch hat eine ruhige, sehr melancholische Gangart, ist dabei aber äußerst spannend. Blondel zeichnet seine Charaktere sehr tief und lässt den Leser teilhaben an deren Gefühlswelten. Dabei hat er besonders die Zerissenheit seines Hauptcharakters sehr fein herausgearbeitet. Victor möchte gefallen, will aber nicht jeden Preis dafür bezahlen. Am Ende kann er das auch so erkennen. Gleichzeitig zeigt der Autor aber auch die Schwierigkeiten von Victors unmittelbarerer Umgebung auf mit dem Selbstmord Matthieus umzugehen. Während der Vater nur darüber reden will, wird er auf dem Lycee nicht einmal erwähnt, obwohl er dort passiert ist. Die Lehrenden wollen lieber alles unter den Teppich kehren und nichts mit den Studenten aufarbeiten.

Der Schreibstil Blondels sucht seinesgleichen. Er formuliert sehr klar, ungekünstelt und schnörkellos und liefert den Beweis, dass ein wirklich gutes Buch nicht unbedingt einen riesen Umfang haben muss. Im Gegenteil bietet er auf knapp 200 Seiten eine sehr atmosphärische und sehr dichte Geschichte, die man mit viel Aufmerksamkeit lesen muss. Ich würde den Roman generell in die gehobene Literatur einordnen.

Mir hat das „Ein Winter in Paris“ sehr gut gefallen. Es ist mein erster Roman dieses Autors, aber ich werde die Augen nach weiteren offenhalten. Von mir daher eine Leseempfehlung.