Paris – Provinz

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rosenfreund Avatar

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Thematisch geht es in diesem kurzen Roman um den Selbstfindungsprozess eines jungen Mannes, nachdem ein Mitschüler Selbstmord begangen hat. Aber es ist auch eine Anklage an das französische Eliteschulsystem. Jeder kann kostenfrei nach dem Abitur studieren, wenn man jedoch eine berufliche Höchstqualifikation mit Arbeitsplatzgarantie anstrebt, muss man nach einem (sehr) guten Abitur in eine 2-jährige Vorbereitungsklasse aufgenommen werden, legt danach eine nationale Prüfung ( concour) ab, wonach nur die Besten in eine Grande Ecole ( Eliteuniversität) aufgenommen werden.
Victor,der aus der Provinz stammt, geht in so eine Vorbereitungsklasse in Paris und findet unter seinen Mitschülern keinerlei Kontakt, wohl auch, weil diese meist aus sehr vermögenden Familien stammen. Er leidet unter Einsamkeit, der Anonymität der Großstadt und,vor allen Dingen,unter den Stress und der Angst, es nicht schaffen. Seine Eltern verstehen sein neues Leben nicht. Die Lehrer sind wenig mitfühlend und arrogant. Ein Lehrer jedoch macht den Schülern, welche er für unzulänglich hält, das Leben zur Hölle, indem er sie ständig erniedrigt und vor der ganzen Klasse bloßstellt.
Viktor hatte einen lockeren Kontakt zu einem Mitschüler entwickelt. Mathieu kann dem Druck und dem Mobbing durch besagten Lehrer aber nicht standhalten und stürzt sich in den Tod.
Jetzt wird Victor als der „Freund“ des Opfers hofiert. Man lädt ihn zu Feiern ein und unterhält sich mit ihm. Durch Kontakt zu dem Klassenbesten aus einer Pariser Elitefamilie erfährt er, wie auch dieser dem klassenspezifischen Erwartungsdruck seiner Eltern ausgesetzt ist und leidet.
Ein Mädchen aus der Oberschicht findet ihn plötzlich interessant, aber eher als „Spielzeug“ aus dem falschen sozialen Kontext. Das macht sie ganz klar deutlich. Außerdem hat sie ständige Launen. Er kann also hinter die geschönte Fassade der Pariser „Reichen und Schönen“ blicken und kommt immer mehr zu der Einsicht, dass er selbst glücklich und frei in der Provinz als Aushilfslehrer und Schriftsteller sein möchte.Victor nimmt zwar am „concour“ teil, vergeigt ihn jedoch bewust.
Victor wird aus der Bahn geworfen, kann seine Krise durch Kontakt zu Mathieus Vater und seinen provinzialen Umfeld aber meistern.
Blondel schildert äußerst kritisch und realistisch den Schulalltag an so einer Vorbereitungsschule. Der Leser kann sich sehr gut in die Situation hineinfinden, denn der Protagonist spricht offen über seine Gefühle und Probleme. Dabei wird eine gepflegte,ruhige, leicht melancholische Sprache verwendet.
Wir finden einen sehr tiefgründigen Stoff vor, der mich, bedingt durch Erfahrungen aus dem französischen Bekanntenkreis, vieles an der französischen „Klassengesellschaft“ hinterfragen lässt.
Sehr zu empfehlen.