Überzeugt mit der sensiblen Figurenzeichnung und seiner Sprache

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
leukam Avatar

Von

Von Jean-Philippe Blondel habe ich schon einige Bücher gelesen. Der französische Autor ist ein Meister der leichten, aber nicht seichten Romane. Er führt den Leser fast immer in die französische Provinz zu ganz normalen Menschen, von deren Leben er unterhaltsam erzählt. „Ein Winter in Paris“ spielt nun dagegen in der französischen Hauptstadt.
Ein Brief löst bei dem Ich- Erzähler Victor, einem Mann mittleren Alters, Erinnerungen aus an seine Zeit damals in Paris. Hier studiert der 19jährige Victor an einem Elite Lycee Literaturwissenschaften. Er kommt aus der Provinz, stammt aus einfachen Verhältnissen und fühlt sich fremd in der Großstadt. Er spürt deutlich, dass er nicht dazugehört zu den reichen und verwöhnten Söhnen und Töchtern des Bildungsbürgertums. Zitat: „ Ich begriff schnell, dass mir die Zugangscodes fehlten: kulturell, sprachlich und die Kleiderordnung betreffend.“ Die Schule stellt hohe Anforderungen, die Lehrer gehen wenig feinfühlig mit den Schwächen der Schülern um. Aber Victor ist ehrgeizig, er studiert fleißig und hat sich mit seiner Außenseiterrolle abgefunden. Da lernt er Mathieu kennen, einen jüngeren Studenten,der in einer ähnlichen Situation ist . Die beiden treffen sich öfter auf eine Zigarette. Doch bevor sich eine wirkliche Freundschaft entwickeln kann, bringt sich Mathieu um. Danach ändert sich alles für Victor. Er, der als Einziger näheren Kontakt mit dem Toten hatte, steht plötzlich im Mittelpunkt des Interesses. Andere Studenten suchen seine Nähe, hübsche Mädchen bemühen sich um ihn. Auch Mathieus Vater nimmt Kontakt mit ihm auf. Bei seiner Suche nach dem Warum wird Victor eine Art Ersatz- Sohn für ihn. Und Victor, der zu seinen eigenen Eltern keine enge Beziehung hat, findet in ihm einen Ersatz-Vater.
„Ein Winter in Paris“ ist ein einfühlsamer Roman über Beziehungen, die manchmal entstehen und die uns helfen, das Leben zu meistern.
Gleichzeitig ist es ein Buch über soziale Unterschiede. Es zeigt, welche Schwierigkeiten jemand hat, der vom Land in die Großstadt kommt, der aus einfachen bildungsfernen Verhältnissen stammt und sich im intellektuellen urbanen Milieu bewähren muss. Dabei verliert derjenige nicht selten die Verbindung zum früheren Umfeld. ( Dieses Thema greifen z.Z. einige französische Autoren auf, z.B. Edouard Louis, Didier Eribon, Annie Ernaux.)
„Winter in Paris“ trägt deutlich autobiographische Züge. So teilt der Autor mit seinem Protagonisten das gleiche traumatische Erlebnis. Auch bei ihm ist während seiner Vorbereitungszeit für das Studium ein Mitstudent in den Tod gesprungen. Der Ich- Erzähler ist ein Englischlehrer, der Romane schreibt, das verbindet ihn ebenfalls mit Jean-Philippe Blondel.
Das vorliegende Buch hat mich mit seiner Geschichte, mit der sensiblen Figurenzeichnung und mit seiner Sprache von Beginn an gepackt. Deshalb : eine Leseempfehlungen für alle, die mehr als Unterhaltung von einem Buch erwarten.