Ein Wispern unter Baker Street - MORD MIT ODER OHNE MAGIE?

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Ein Londoner Constable ermittelt in einem Mordfall. Klassische Who-done-it-Literatur? Weit gefehlt. Peter Grant ist zwar Constable, arbeitet aber für eine geheime Abteilung und wird immer dann gerufen, wenn an einem Tatort etwas Ungewöhnliches, wissenschaftlich nicht zu (Er-)Klärendes auftritt. Als Magier in Ausbildung hat er sich auch bereits einige Fähigkeiten angeeignet, seine wichtigste Fertigkeit ist es jedoch, zu erspüren, ob an einem Gegenstand oder Ort gezaubert wurde.
So gerät er gemeinsam mit seiner Partnerin Leslie May und seinem Mentor und Abteilungleiter Detective Chief Inspector Thomas Nightingale an einen Fall, bei dem die Leiche des jungen amerikanischen privilegierten Kunststudenten James Gallagher, der ein Auslandssemester in London verbrachte, in einem der vielen Londoner U-Bahn-Tunnels gefunden wird…
Hauptverdächtiger wird sein Mitbewohner, jedoch führen weitere Ermittlungen in die Kunstszene und auf den Schwarzmarkt, da die Tatwaffe eine (antike, mit leichten magischen Schwingungen behaftete) Tonscherbe ist.
Der Schreibstil – alles aus Peter Grants Sicht – ist flott und pointiert. Oft sorgen seine sarkastischen und makabren Gedankengänge oder Personenbeschreibungen für Belustigung. Von Immigrantenherkunft über inoffizielle Abmachungen mit Zeugen, behördliche Zuständigkeiten, Gesellschaftskritik oder Jugendschutzfragen bis hin zu gesundheitlichen Aspekten des übermäßigen Gebrauchs von Magie – es wird neben dem eigentlichen Fall eine unglaubliche Fülle an Themen angesprochen, allerdings oft nur in einem Gedankenfetzen oder wenigen Sätzen… Manche Andeutungen erschließen sich gar nicht komplett. Sicherlich liegt das aber daran, dass es mit Peter Grant bereits Vorgängerromane gibt, in denen Personen oder Situationen evtl. bereits ausführlich beschrieben wurden. Ohne die Vorgänger bisher gelesen zu haben hoffe ich doch sehr, dass die Flüsse (und ihre Gottheiten) sowie der Unfall/Angriff(?), bei dem die eine Gesichtshälfte von Partnerin Leslie entstellt wurde (trägt Grant dafür etwa die Verantwortung?!), näher beschrieben werden. Einzeln gelesen wirkt „Ein Wispern unter Baker Street“ an manchen Stellen also ein wenig hektisch oder sprunghaft, einzelne Stellen, deren Sinn sich nicht in Gänze erschließt, muss man also zunächst so hinnehmen.
Neben der Schilderung der eigentlichen Fallermittlung mit allen beteiligten Kollegen (der Chef der Mordkommission, der nichts von Nightingales Spezialeinheit hält sowie eine amerikanische FBI-Agentin mischen auch noch mit) finden sich hauptsächlich detaillierte, sicherlich authentische, Weg- und Gebäudebeschreibungen, wodurch eine lebendige London-Kulisse im Kopf entsteht. Die Kapitel sind immer mit den passenden Straßen oder Plätzen betitelt. Ebenso gut recherchiert scheinen die historischen Hintergründe der Londoner Pottery und Piggery-Kultur, die in dem Fall eine entscheidende Rolle spielt.
Dagegen bildet die immer wieder relevante Magie einen idealen Kontrast. Auch die vielen Formulierungen, mit Hilfe derer die Magie vertuscht wird, da die Öffentlichkeit davon nichts erfahren darf, sind gelungen gewählt und geben dem Text einen besonderen Reiz, ebenso wie einige Anspielungen auf namhafte Fantasy- und Science-Fiction-Werke.
Besonders gefallen hat mir die ebenso unrealistische, aber köstlich amüsant geschilderte kumpelhaft-flapsige Beziehung, die Peter und Leslie zu dem Verdächtigen Zach, einem respektlos schmarotzenden, aber sympathischen Chaoten, aufbauen…
In der zweiten Hälfte des Buches geht es dann in die Londoner „Unterwelt“, in Kanalisation, U-Bahn-Tunnel und geheime (durchaus bevölkerte) Schächte. Dies ist von der Grundidee her schlüssig, passt zur Lösung des Falles, entbehrt jedoch nun vollends der Realität… Nicht ganz „mein“ Thema, aber mit Aaronovitchs Formulierungen so gekonnt in Worte gefasst, dass ich auch diesen Teil der story verschlungen habe. Und so wurde auch geklärt, was oder wer die whisperer sind…
Auch nach erfolgreichem Abschluss des Falles mit einer handfesten Verhaftung konnte ich noch den Schluss genießen, da so mancher der Protagonisten nochmal „sein Fett weg“ bekam und es auch einige vielversprechende Abschiede (nur auf Zeit?) gab. Auch die jugendliche Bekannte vom Beginn des Romans (s. mein Leseeindruck) betrat noch einmal die Bildfläche. Ein gekonnter Schluss mit Fortsetzungspotential…
Dieses Buch ist in meinen Augen keineswegs das, als was Grants Chef die übersinnlichen Phänomene bezeichnet: "abstruser Scheiß", sondern es ist niveauvolle, lockere Unterhaltung - einfach gelungen!