Herbjörg, ich ziehe meinen Hut vor dir

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suse9 Avatar

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Wie oft ich während des Lesens dieses Romans das Cover betrachtet habe, weiß ich nicht. Selten war eins besser getroffen, als dieses. Ein beeindruckendes Gesicht versteckt die Augen hinter einer dicken Brille, damit ich nicht tiefer hineinsehen kann. Eine unangezündete Zigarette und rosa schimmerndes Haar deuten auf einen unbeugsamen Charakter hin und den hat sie – Herbjörg Maria Björnsson. Aus ihrem Krankenbett, das in einer Garage steht, ist sie über das "Facebuch" mit der Außenwelt verbunden. Viele Freunde aus der ganzen Welt halten den Kontakt zu ihr und lieben sie. Dass sie ihr Profil nicht ganz wahrheitsgemäß so zurechtbog, wie es gerade passte, ist eine Kleinigkeit, bei der sich Herbjörg nicht aufhalten will. Die 80jährige überlässt nichts dem Zufall und hat sich schon einmal ein warmes Plätzchen bei einem Bestattungsunternehmen bestellt. Der Termin ist ausgemacht und die Versicherung der Angestellten, dass zum genannten Zeitpunkt ordentlich eingeheizt sein wird, beruhigt Herbjörg sehr. Die verbleibende Wartezeit vertreibt sie sich mit ihrem ständigen Begleiter – einer Handgranate aus dem 2. Weltkrieg – indem sie auf ihr Leben zurückschaut. Dabei schont sie weder sich, ihre Familie noch die Gesellschaft.

 

Wie das mit Erinnerungen oft so ist, springt die Erzählung in der Zeit ständig hin und her und man muss schon sehr aufmerksam lesen, um die Zusammenhänge zu verstehen. Oft wird ein wichtiges Detail nur ansatzweise oder wie im Vorbeigehen erwähnt und ich musste im Text zurückgehen, da ich mir nicht sicher war, es richtig interpretiert zu haben. Bald schon gab ich es auch auf, die ungewohnten isländischen Bezeichnungen einer Person, Stadt, Straße oder Speise richtig zuzuordnen. Dies schien fast unmöglich, obwohl es sehr amüsant zu lesen war. Ansonsten war das Buch keineswegs amüsant, auch wenn der Autor einen eigenwilligen skurrilen Schreibstil hat, der einen oft dazu verleitet, über unfassbar traurige Dinge zu schmunzeln. Diesen Stil durfte ich bereits in dem Buch „Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen“ kennenlernen, so dass ich hier vorgewarnt war.

 

Herbjörg gibt vor, eine lustige Alte zu sein, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt, ihr Leben im Griff hat, unbeugsam und stark ihren Weg geht. Und doch, und doch steckt so viel mehr dahinter, dass mir oft beim Lesen die Augen brannten. Über Trauriges konnte ich nicht weinen, da es lustig beschrieben war und über Lustiges nicht lachen, da es so viel Leid barg. Hallgrimur Helgason setzte mich in eine Achterbahn und freute sich diebisch darüber, dass mein Magen ständig in Bewegung war. Nur durch zeitweiliges Zuschlagen des Buches verschaffte ich mir eine kleine Verschnaufpause, um kurze Zeit später wieder in den Wagen zu steigen und eine weitere Runde zu drehen. Die Erzählung hat mir einen Blick auf das Leben Herbjörgs verschafft und doch bin ich mir nicht sicher, ob ich sie richtig kennengelernt habe und das macht mich traurig. Dennoch bin ich dankbar, ein Stück mit ihr gegangen zu sein.

 

Ich denke, das Buch „Eine Frau bei 1000°“ ist nicht für jeden geeignet. Keine ganz leichte Lektüre liegt hier vor.  Wen der Schreibstil Hallgrimur Helgasons aber erst einmal gepackt hat, wird es schwer haben, den Roman aus der Hand zu legen. Dieses Buch finde ich noch viel besser als seinen Vorgänger, der mir schon außergewöhnlich gut gefiel.  Ich frage mich oft, warum diese Art von Romanen so wenig Beachtung finden. Der breiten Masse bleiben sie verborgen. Nur ein vergleichsweise kleiner Kreis, der das Glück hatte, auf den Autor aufmerksam gemacht worden zu sein, kann dessen Kunstwerke genießen. Froh bin ich, dass ich dazu gehöre.