Leben in Südtirol

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buecherfan.wit Avatar

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Die 42jährige Eva Huber bekommt eines Tages einen Anruf von Vito Anania. Vito war die große Liebe ihrer Mutter Gerda und hat eine Zeit lang die Vaterrolle bei Eva übernommen. Jetzt liegt er im Sterben und möchte Eva vor seinem Tod noch einmal sehen. Eva steigt in Südtirol in den Zug und fährt 1397 km bis zur südlichsten Spitze von Italien.

Während der langen Bahnfahrt beobachtet Eva die Mitreisenden und betrachtet die sehr unterschiedliche Landschaft auf beiden Seiten der Strecke. In dieser Zeit lässt sie aber auch die Geschichte ihrer Mutter Gerda und ihr eigenes Leben an ihrem geistigen Auge vorbeiziehen. Als 16jährige wurde die ungewöhnlich schöne junge Frau von ihrem Vater als Küchenhilfe in ein Hotel nach Meran geschickt. Sie wird bald schwanger. Ihr Kind darf sie zunächst bei sich behalten, muss es später aber in eine Art Pflegefamilie abgeben, als Eva die Abläufe im Hotel zu stören droht. Ihre eigene Familie hat sich von ihr losgesagt. Gerda schlägt sich als ledige Mutter allein durch und sieht ihre Tochter nur zwei Monate im Jahr, wenn das Hotel geschlossen ist. Eva ist beruflich erfolgreich, aber auch sie ist nicht mit Mann und Kindern glücklich geworden. Stattdessen hat sie seit elf Jahren eine Beziehung zu Carlo, einem verheirateten Mann, Vater von drei Kindern, die zu nichts führen wird. Sie hat Vito Anania als Kind sehr geliebt und ist nie darüber hinweggekommen, dass er nach der Trennung des Paares aus ihrem Leben verschwunden ist.

Gerdas hartes und Evas kompliziertes Leben sind aber nicht die einzigen Themen dieses Romans. Immer wieder sind Kapitel eingestreut, die die wechselvolle Geschichte Südtirols im 20. Jahrhundert behandeln: von 1919 - 1998, vom Vertrag, der Südtirol Italien zuschlug, über die Annexion durch den italienischen Staat, den langen Kampf um Autonomie, das Leben und Wirken der politischen Legende Silvius Magnago bis zur Erlangung des Autonomiestatus. Besonders die Schilderungen von Benachteiligung, Unterdrückung und Verfolgung der deutschsprachigen Bevölkerung zur Zeit des Faschismus und der politisch motivierten Attentate der 60er Jahre mit den darauf folgenden Mailänder Prozessen nehmen breiten Raum ein. Dies zeigt, dass die Geschichte der Region der Autorin genauso wichtig ist wie die privaten Schicksale: die Familiendramen und die Liebesgeschichte, die an den Umständen scheitert, genauer gesagt an den rückständigen Ansichten von Vitos Familie, die keine ledige Mutter als Ehefrau für Vito akzeptiert, und an den Dienstvorschriften, nach denen eine Eheschließung mit einer ledigen Mutter und Schwester eines Terroristen zur sofortigen Entlassung aus der Armee führen würde.

Der Roman liest sich gut, nicht zuletzt, weil er sprachlich-stilistisch sehr anspruchsvoll ist, und er ist hoch interessant. Allerdings berührt er nicht so, wie das zuletzt Catalin Dorian Florescus “Jacob beschließt zu lieben” getan hat, weil die verschiedenen Bestandteile doch die Tendenz zeigen auseinander zu driften. Die historisch-politischen Exkurse erreichen oft eine wahrhaft epische Breite, und die Liebesgeschichten und Familiendramen entfalten von daher eine weniger intensive Wirkung. Dennoch ist Francesca Melandri ein durchaus empfehlenswerter Debütroman gelungen.