Sehnsuchtsorte nachgeblättert

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merkurina Avatar

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Ascona, Attersee, Capri, Bali, St.Moritz, Hiddensee: Alles Orte, die auch heute noch einen besonderen Klang haben und ihre Besucher:innen finden. So unterschiedlich die geographische Lage, so unterschiedlich die touristische Geschichte dieser Orte ist, Thomas Blubacher entdeckt in ihnen Verbindendes. Als Rückzugsorte vergangener Zeiten stellt er sie vor, Orte an denen Kunst und freier Geist, wilde Vergemeinschaftungen und exzentrische Ideen einst an der Tagesordnung waren. Die Auswahl der Orte, Personen und Aktivitäten kann kaleidoskopartig genannt werden, wirkt manchmal auch willkürlich. Das Thema ist groß, die Idee faszinierend, hin und wieder scheint der Inspiration ein wenig die Puste auszugehen. So verblasssen die Orte und Zusammenhänge bisweilen hinter einer Anstrengung der Abarbeitung und Ansammlung.
Dabei ist vor allem ein optisch wunderschönes Buch entstanden, mit außergewöhnlichen historischen Fotos. Ein wenig schlingert die Fahrt durch die Sehnsuchtsorte, weil sie einerseits zwar einen merklichen Fokus legt auf Reformgeister, die Nacktheit und sexuelle Freizügigkeit fernab der Heimat aufs sonnenbeschienene Programm setzten - diesen Fokuas aber auch wieder verlässt und Reisende vorstellt, die damit nicht allzu viel zu tun haben. Von Ascona über Hiddensee bis Capri treffen wir heute mehr oder weniger vergessene Reformpäpste (ja, in der Regel Männer) und Abbildungen sich dem Himmel entgegenstreckender nackter Körper (gerne weiblich). Neben solchem Drängen zum körperbetonten Unmittelbaren werden andererseits bekannte schaffende Künstler angetroffen von Hesse über Thomas Mann bis zum wunderbaren Gustav Klimt, alle auf ihre Art zweifellos besondere Geister. Lange verweilt der Text auf Bali bei Walter Spies, der wie kein anderer die balinesische Kultur beeinflusst habe und das Interesse des Autors in besonderem Maße dazu.
Mich interessieren die außergewöhnlichen Frauen am meisten, Franziska zu Reventlow etwa, die in Ascona ihre eigenen Rechnung mit Genussfreude und Ehestrategien aufmachte. Oder Emilie Flöge, Muse, Klimt-Freundin und selbstbewusste Modezarin. Diese Frauen zogen sich nicht im Freien ständig aus, sondern ganz besonders an!
Häufig, wenn man gerne mehr (oder weniger Oberflächliches) erfahren würde, eilt der Text schon weiter, zu anderen Personen und Verwicklungen, wechselt in der Zeit und im Charakter des Geschehens. Oder verhakt sich akribisch an Details, um auch dann wieder abzubrechen und sein Glück bei einer anderen Momentaufnahme zu suchen.
Dadurch wird das Buch ein wenig ermüdend, wollte man es am Stück lesen: Zickzack statt Tiefe. Zum Blättern, Staunen, Anregen lassen, Assoziieren und Weiterdenken eignet es sich jedoch sehr. Um es noch einmal zu betonen: Es ist ein verdammt schön gestaltetes Buch, sodass der Preis von schlappen 22,90 € bei dieser liebevollen farbenfrohen Aufmachung verblüfft.