Hartes Leben

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kleine hexe Avatar

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Was für ein Gefühl ist das, für ein Kind, wenn es weiß, die Mutter muss sich prostituieren, um Brot auf den Tisch und Kleidung für die Familie zu kaufen? Und der Tochter alle Wünsche zu erfüllen, bis hin zu Sprachferien an der Côte d’Azur. Und wenn die Mutter nicht “anschaffen” geht, werden Tabletten vertickt oder sie begeht Ladendiebstahl und muss sogar zwei Mal ins Gefängnis dafür.
Iris zeigt nach außen hin eine heile Fassade, aber daheim lebt sie in einer “soziokulturellen Parallelwelt” (S. 102), hart am Rande der Legalität. Prostituierte, Hehler, kleine Diebe, Zocker und andere zwielichtige Typen, wie Zuhälter, bevölkern ihre Welt. Und aus all diesem geht sie unbeschadet hervor, ihre Eltern wachen über sie und sorgen dafür, dass sie von all dem Grauen nichts merkt oder gar abbekommt.
Iris verdrängt die Beschäftigung der Mutter, spricht nicht in der Schule über ihre Eltern, sie hält diese zwei Welten, Schule und Daheim strikt getrennt. Auch später, an der Uni, sie studiert Jura, verschweigt sie weiterhin, dass sie aus dem “Milieu” kommt. Sie ist ein Kind, dem es an nichts gemangelt hat, weder materiell noch an elterlicher Liebe. Der Vater, ein türkischer Gastarbeiter, und Sonja, eine echte Kölnerin, vergöttern ihre kleine Iris, ihr soll es an nichts mangeln. Nur wenn der Strom in der Wohnung von den Stadtwerken abgestellt wird, merkt Iris, dass es ein Problem gibt. Oder wenn die Polizei ohne Durchsuchungsbefehl die Wohnung durchsucht und die Einrichtung zerstört. Oder wenn Sonja die kleine Iris mit zu Besuch nimmt zu ihrer Familie, merkt das Mädchen an den abfälligen oder mitleidigen Bemerkungen der Erwachsenen, dass etwas nicht stimmt. Aber Iris schafft es, alle diese schweren Probleme derart zu kompartmentalisieren und alles zu verdrängen, in sich fest verschlossen zu halten. Es gelingt ihr, in allen Situationen die Fassade aufrechtzuerhalten.
Der Schreibstil ist sehr direkt und hart. Voll dem Thema angepasst. Man kann nicht schönreden, was nicht schönzureden ist. Diese schonungslose Art ist nicht abstoßend, im Gegenteil. Der Leser gewinnt volles Verständnis und auch Achtung, wie Iris ihr Leben meistert. Auch wenn sie als Jugendliche nicht immer richtig gehandelt hat. So verschläft sie buchstäblich die letzten Momente ihres Vaters, bevor er stirbt, obwohl sie versprochen hatte, ihn in der Klinik zu besuchen. Auch war ihre Reaktion auf die Nachricht, dass ihre Mutter an AIDS erkrankt ist, nicht gerade stellar. Dafür aber lässt sie alles stehen und liegen in Berlin, wo sie als erwachsene Frau lebt, und eilt zu ihrer Mutter nach Köln um bei ihr zu sein und sie zu pflegen. Auch die Verabschiedungszeremonie, die Iris für ihre Mutter organisiert, mit einer kleinen Party unter einer Rheinbrücke hätte Sonja gut gefallen.
Mit diesem absolut und unglaublich ehrlichen Buch leistet Iris Sayram Abbitte ihren Eltern, dankt ihnen für all die Liebe und setzt ihnen ein Denkmal.