St. Oberholz zum Mitnehmen

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cracklinrosie Avatar

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Während eines Gewitterregens im November verliebt sich Ansgar Oberholz offenbar spontan in ein altes, geschichtsträchtiges Gebäude am Rosenthaler Platz, Mitten im Herzen Berlins. Sein Plan ist ein ganz neues, anderes Café, mit Internet- und Stromversorgung an jedem Tisch. Vollkommen ohne jede Erfahrung in der Gastronomie - einfach nur von seiner Idee beseelt - stürzt er sich in dieses Abenteuer.
Auf fast 240 Seiten lässt er den Leser teilhaben an dieser schwierigen Zeit mit all ihren Nöten, Problemen und auch Zufälligkeiten, mit denen der Autor manches Mal etwas überfordert war. Jedoch gerade seine Erkenntnis, dass er in einigen Situationen schlichtweg nicht mehr alle Fäden in der Hand hielt, macht dieses Buch und seinen Autor für mich ausgesprochen sympathisch. Die teilnehmenden Personen werden so auf den Punkt beschrieben, dass sie nahezu greifbar vor dem geistigen Auge auferstehen. Oberholz hat den Blick fürs Wesentliche und schafft es damit, mir sofort die Personen vertraut zu machen. Da ich mir Namen und Gesichter ausgesprochen schlecht merken kann, ist das für mich persönlich eine reife Leistung!
Er macht jede dieser Personen zu etwas besonderem und jede der kleinen Nebensächlichkeiten bekommt Gewicht. Ob es seine Mitarbeiter sind - allen voran Milena, eine erfolglose Schauspielerin, die ihm immer wieder das Kommando streitig macht, Shanti, der indische, spirituelle Koch, der anfangs lediglich 1 Gericht kochen kann, Magnus, eine schwedische Nachtclub-Bekanntschaft aus früheren Zeiten mit dem offensichtlichen Vorhaben, die gesamte weibliche Crew des Cafés (und nicht nur diese) zu beglücken, Dolores, die spanische Reinigungskraft die etwas zu Hysterie neigt und eines Tages dem Geist einer Nazi-Putzfrau im Keller begegnet, der natürlich durch ein Medium "befreit" werden muss - allesamt nicht wirklich vom Fach und es wundert einen schon, dass sie es dennoch geschafft haben, so ein Café auf die Beine zu stellen.
...oder seine Gäste: Ein amerikanischer Porno-Cutter, der aufgrund seiner sonoren Stimme fürderhin nur noch Howard Carpendale genannt wird, die schrulligen Zwillinge aus dem Nagelstudie, die mit ihrem Hündchen Püppi zu Stammkunden geworden sind, der öffentlich masturbierende Clochard mit seinem Freund im Rollstuhl, die die Obdachlosenzeitung an die Kundschaft bringen wollen oder der Vertreter des namhaften Getränkekonzerns, der immer wieder versucht seine Produktlinie unter zu bringen. Dann gibt es noch Klamotte - ein handwerkliches Mädchen für alles. Er übernimmt z. B. die Installation der für die Zulassung erforderlichen Personaldusche und allerlei anderen Krimskrams. Nebenbei steht er gerne mit direktem und vor allem ehrlichem Rat zur Verfügung.

Eine fortlaufende Handlung im eigentlichen Sinn gibt es nicht - eher eine Aneinanderkettung verschiedener Geschehnisse. Und derer gibt es viele! Manchmal überschlagen oder überholen sich die Ereignisse, so dass man regelrecht Mitleid bekommen kann. Eingestreut in diese Handlung werden Informationen über den geschichtlichen Hintergrund einiger Schauplätze oder auch die Funktionsweise des ein oder anderen Profi-Geräts des Cafés sowie kurze Rückblicke auf sein bisheriges Leben. Dies lockert das Buch eher auf als dass es stören würde und ich empfand es als informativ. Alleine die Geschichte mit seinem Vertikutierdienst im Jugendalter im Geburtsort Stolberg (der kleinstädtischen Senke) amüsierte mich köstlich. Der Rote Faden bleibt bei all dem der Start in ein neues Café-Zeitalter am Rosenthaler Platz.
Ich habe dieses Buch mit großem Vergnügen gelesen, und zwar von der ersten bis zur letzten Zeile! Vielsagend ist, dass er im abschließenden Epilog kurz schildert, was aus den Menschen geworden ist, die einem mit den vergangenen 230 Seiten schon ans Herz gewachsen sind. Es war ein sehr kurzweiliges Vergnügen und ich war traurig als es ausgelesen war. Der Schreibstil ist humorvoll (aber fernab der Comedy-Flachheit), oft etwas launig und allem voran ehrlich (so weit man das als Leser beurteilen kann). Man hat das Gefühl, dass Ansgar Oberholz etwas an all den Menschen liegt, mitsamt ihren Schrullen und Macken. Gerade seine Fähigkeit, manch eigene Schwäche zu erkennen und zu lernen damit umzugehen, machen ihn und sein Erstlingswerk ausgesprochen sympathisch. Ich hoffe sehr, dass es weiteres von ihm zu lesen gibt!
Übrigens ist auch die HP einen Besuch wert. ;)
Vielen Dank an dieser Stelle an Vorablesen, denn ohne sie hätte ich mit Sicherheit nie dieses Buch gelesen, da es mich vom Thema her eigentlich überhaupt nicht interessiert!