Die Philosophie des Gehens

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„Warum gehen wir? Wo kommen wir her, und wo gehen wir hin?“

Erling Kagge ist von Beruf Autor, Jurist und Verleger. Von Berufung her ist er dagegen leidenschaftlicher Wanderer, der sowohl den Nord- und Südpol erreicht als auch den Mount Everest erklommen hat – als Erster in der Geschichte wohlgemerkt.

„Gehen. Weiter gehen“ ist nach „Stille. Ein Wegweiser“ Erling Kagges zweites Sachbuch, das eine große internationale Resonanz erfuhr. Und das zu Recht, denn „Gehen. Weiter gehen“, das sich selbst als eine Art Anleitung versteht, sucht vergeblich seinesgleichen. Es ist ein Sammelsurium aus eigenen Geh-Erlebnissen, die sowohl Alltagssituationen als auch Extremerfahrungen umfassen, Gedanken berühmter Philosophen und Schriftsteller, sozialwissenschaftlichen Studien sowie Gesprächen mit guten Freunden und flüchtigen Bekanntschaften. Abgerundet wird es durch Bilder und Graphiken aus der privaten Sammlung des Autors.

„Gehen. Weiter gehen“ ist so faszinierend, dass ich es in einem Rutsch gelesen habe. Man kann es aber auch Häppchenweise genießen. Auf jeden Fall kann – und wird man – zu vielen seiner Aussagen immer wieder zurückkehren. Ich konnte mich mit vielem identifizieren. So z.B. mit seiner Ansicht, man solle eine Stadt zu Fuß erkunden, um sie richtig kennenzulernen. Auch ich habe noch nie einen Hop-on-hop-off-Bus genutzt, obwohl ich dessen praktischen Nutzen durchaus nachvollziehen kann. Oder wenn Kagge von dem herrlichen Gefühl schreibt, in einem Park oder Wald spazieren zu gehen, und sich an einem ruhigen Platz auf den Rücken zu legen, wenn man erschöpft ist. Oder wenn er schreibt: „Am liebsten gehe ich, bis ich beinahe zusammenbreche. Ich will das Glück, die Erschöpfung und die Absurdität beim Gehen spüren, wenn sich alles vermischt und ich nichts mehr trennen kann. Mein Kopf verwandelt sich. Mir ist es egal, wie spät es ist, die Gedanken verschwinden aus meinem Kopf, und ich werde zu einem Teil des Grases, der Steine, des Mooses, der Blumen und des Horizonts.“

Wenn der Autor über die Rolle des Schmerzes beim Gehen schreibt und darüber wie eng Schmerz und Wohlbehagen miteinander verbunden sind, verstehe ich sehr gut, was er meint. So habe ich mir selbst schon oft unter Einsetzung meiner ganzen Vorstellungs- und Willenskraft den Schmerz in meinen Füßen als ein schönes Gefühl vorstellen können. Und welche Befriedigung der Mensch daraus ziehen kann, tage- und wochenlang nur mit wenigen Habseligkeiten und einem begrenztem Vorrat an vorher festgelegten Lebensmitteln auszukommen. „Wenn du sagst, es sei unmöglich, damit klarzukommen, und ich sage, es ist möglich, haben wir vermutlich beide recht.“

Mehr als nur meinen ganzen Beifall kann ich Erling Kagge zollen, wenn er schreibt, dass man eine Landschaft nur zu Fuß richtig kennen lernen kann, denn „wenn man mit dem Auto [...] fährt und sieht, wie kleine Bäche, Hügel, Steine, Mose und Bäume an einem vorbeisausen, wird das Leben kürzer. Man spürt den Wind, die Gerüche, das Wetter und die Veränderungen des Lichts nicht. [...] Alles geht ineinander über. [...] Wenn man [dagegen] dieselbe Strecke geht [...] wird es ein ganz anderer Tag. [...] Mit all den Dingen um sich herum vertraut zu werden, braucht Zeit. Als würde man eine Freundschaft aufbauen. Die Zeit dehnt sich aus, du zählst nicht mehr in Minuten und Stunden.“ Wie wahr! Und genau deswegen „dauert“ das Leben auch „länger, wenn man geht“, denn „gehen verlängert jeden Augenblick“.

Auf eigener Haut habe ich erfahren, was der Autor am Gehen anpreist: Dass es die Gedanken frei fließen lässt, gute Laune macht, die Kreativität freisetzt und Abstand von den eigenen Problemen gewinnen lässt. Die Probleme verschwinden zwar nicht – „Im Gegenteil, sie waren zu groß, als dass ich ihnen hätte entgehen können, aber mein ganzes Ich hatte eine Pause gehabt.“ – aber der Umgang mit ihnen ändert sich. Nur im und durch das Gehen können bestimmte philosophische Gedanken mit Leichtigkeit erfasst werden, wie dieser: „Der Augenblick und die Ewigkeit müssen keine Gegensätze sein. Die Zeit wird aufgehoben, und beides kann gleichzeitig erlebt werden.“

„Die Bipedie legte die Grundlage für alles, was wir heute sind“ und darum trete ich nun vor meine Haustür, denn „wenn wir kaum noch gehen, hören wir auf, der zu sein, der wir sind.“ Und das will ich auf gar keinen Fall riskieren. Auch möchte ich für eine Weile „den Rest der Welt“ vergessen, denn „Vergangenheit und Zukunft spielen kaum eine Rolle, solange man einen Fuß vor den anderen setzt.“