Intergenerationales Trauma in armenischem Kontext

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Marc Sinans Debütroman beginnt monumental mit vierzehn Gewehrschüssen im Frühling 1915. Hüseyin Umut ist noch ein Jugendlicher, als er im Ersten Weltkrieg die Grausamkeiten gegen die armenische Bevölkerung mitbekommt. Weil er schon früh ein Talent für Logistik und Handel hat, muss er jedoch nicht kämpfen, sondern ist für die Versorgung der Truppen zuständig. Später sollen ihn diese Fähigkeiten zum großen Haselnussmagnaten am Schwarzen Meer aufstreben lassen, verheiratet mit der schönsten Frau der Gegend: Vahide, die helle Haut hat und eine ganz eigene, traumatische Vergangenheit mit sich bringt.

Zwei Generationen später wächst Kaan, Sohn von Nur und Enkel von Hüseyin und Vahide in einem Vorort von München auf. Seine Mutter spricht fast akzentfrei und tut alles, um Kaan ein erfolgreiches Leben zu ermöglichen. Tatsächlich wird Kaan ein Gitarrenvirtuose mit vielversprechender Zukunft, allerdings macht er anderen und sich selbst mit fanatischem Ehrgeiz und Überheblichkeit das Leben schwer. Ein Gewicht lastet ihm auf der Brust, seit er denken kann und durch Erinnerungen, Träume und Visionen dringt er immer weiter zum Kern des Familientraumas vor, das er zu schultern hat.

Marc Sinan zeigt eindrücklich auf, wie sich Geschehnisse der Vergangenheit über Generationen in die Seele der Menschen und der Natur einprägen. Er springt dabei schon nach jeweils wenigen Seiten in andere Zeiten und Perspektiven, bricht Chronologien auf und stückelt die Versatzstücke wieder zusammen.

"Die Zeit faltet sich, sie ist nur eine menschliche Fiktion. Sie existiert nur für uns, weil wir um sie wissen und sie anbeten. Aber die Welt findet zur gleichen Zeit und am selben Ort statt. Sie ist eins. Deshalb ist alles, was wir tun, bedeutungslos, oder es bedeutet alles, wirklich alles, wenn wir nur die Macht erringen, sie zu erzählen, wird Vahide später, viel später sagen, als sie längst Kaans Anneanne ist.” (S.181)

Mit ganz eigenen, eindrücklichen Bildern und feinfühligen Worten tastet sich der Autor voran und verwebt Teile seines eigenen Lebens fiktionalisiert in die Geschichte ein. Das Thema des intergenerationalen Traumas ist nicht neu und doch schafft Sinan anhand des Schicksals des armenischen Volkes die Spirale von Tätern und Opfern auf besondere Art und Weise zu beleuchten und dringliche Fragen zu stellen. Mit einer Prise Irrwitz stellt sich sein Protagonist Kaan der Aufgabe, aus dem Kreislauf auszubrechen, wobei uns der Autor die Realität durchgehend entzieht und spielerisch mehrere Versionen der Geschichte anbietet.

Marc Sinan ist selbst Komponist und Gitarrist. In seinen musikalischen Werken spielt der armenische Komponist Komitas Vardapet eine zentrale Rolle, dem auch im Roman Bedeutung zukommt. Stimmungsvoll ist auch das literarische Debüt komponiert, in dem sich verschiedene Motive nach und nach vereinen und zu einem großen Finale steigern. Ein grandioses Buch, das mich eingenommen hat in all seinen Variationen, unterstrichen durch sprachliche Eleganz und bildliche Leuchtkraft.