Trip in den magischen Realismus

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
martinabade Avatar

Von

Dieses Buch duftet, riecht und stinkt. Es tönt aus einem Konzertsaal und aus einer Moschee. Es wimmelt wie ein Basar. Es ist bildhaft und zum Anfassen. Es jubelt und weint. Es plätschert, saust und braust. Es ist uralt und gegenwärtig. Es ist voll der Liebe und starrt vor Gewalt. Es ist kitschig und faktisch.

Während der Lektüre habe ich überlegt, an welches Genre, welche Form der Text mich erinnert. Wo ich diesen Rhythmus und diese Mystik gespürt habe. Am Ende war ich in Gedanken entweder bei der Homer’schen Odyssee oder den Hexen des Hamlet. Gefühlsmäßig nah dran, aber noch kein so richtiger Treffer. Ein Blick auf die Homepage des Autors hätte das Rätsel raten gespart. Dieser Text ist Musik, Marc Sinan im „richtigen Leben“ auch Musiker, Komponist und vielseitiger Künstler, in dessen Werk häufig das Leben zwischen den Kulturen thematisiert wird. „Gleißendes Licht“ ist ein Oratorium, dieses hier zwischen zwei Buchdeckeln.

Der Rahmen der Geschichte trägt autobiographische Züge. Der junge Gitarrist Kaan, auf dem Sprung zu einer großen Karriere, ist plötzlich gezwungen, sich mit der Geschichte seiner Familie auseinanderzusetzen. Seine Mutter ist Türkin, er ist in Deutschland aufgewachsen. Und Mama hat ihm immer wieder eingebläut: Du musst besser sein als die anderen, du musst die Scharte deiner Herkunft durch Leistung, Leistung, Leistung auswetzen. Dem Jungen Kaan kommen seine, durch eine Laune der Natur?, blonden Locken zur Hilfe. Mama heißt mit Vornamen „Nur“, übersetzt: gleißendes Licht.

Sinan erzählt die Geschichte dieser Familie über die Dauer des 20. Jahrhunderts stark fragmentiert bis über die Gegenwart hinaus. Die vergebliche Liebe zu Zizi, einer Schulfreundin, mit der er selbst eine Familie gegründet hat: die Stimme der Realität. Er erinnert sich an die Geschichte des Großvaters, der Großmutter und ihrem Tod. Damit eng verbunden ist die Geschichte des Genozids der Türken am armenischen Volk. In den Jahren 1915/1916 deportierte die türkische Armee hunderttausende von Armeniern und Armenierinnen. Auch die Eltern und der Bruder der Großmutter mussten fliehen und das kleine Mädchen als Waisenkind zurücklassen.

Zwischen den Textblöcken finden sich immer wieder Gedichtzeilen oder Liedtexte, sowie Schilderungen der tranceartigen Zustände, in die Kaan sich immer wieder verliert und an denen er die Leserinnen und Leser in totaler Introspektion teilhaben lässt. Und es finden sich große topoi, die Sinan wie Kopfthemen durch den ganzen Text führt: das Meer, die Musik, die Urgewalt des Mythischen, die Religion, die Familie, Haselnüsse.

Am Ende fasst Kaan einen Plan zur Vergeltung.