Kampf ums Überleben

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rosenfreund Avatar

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Wir sind im Jahre 1845, dem Jahr der großen Hungersnot in Irland, ausgelöst durch die Kartoffelfäule, denn Kartoffeln sind das Hauptnahrungsmittel der armen Bevölkerung. Mindestens 1 Million Menschen verhungern. Ein bis zwei Millionen wandern aus. Das düstere Cover führt geschickt in diese Misere ein.
Auf diesem Hintergrund schneidet Grace Coleys Mutter ihrer 14-jährigen Tochter die Haare ab, steckt sie in Männerbekleidung und zwingt sie, das Haus zu verlassen, um auf Wanderschaft durch Irland zu gehen, da sie alle ihre Kinder nicht mehr ernähren könne. Als Junge sei sie geschützter.
Auf ihrer Odyssee begegnet sie Tausenden Bettlern und Arbeitssuchenden und muss erleben, wie sie der Überlebenskampf Grenzen und Regeln überschreiten lässt. Sie stielt und wird bestohlen, ist am Rande ihrer Willenskraft und lebt wie ein Tier. Wenn es ihr besonders schlecht geht, “redet” sie mit ihrem 12-jährigen Bruder Colly, der zwar nur in ihrem Kopf existiert, ihr jedoch in ihrer Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit Trost spendet und Tipps gibt. Besonders hat mich die Hartherzigkeit der wohlhabenden Leute schockiert. Lynch klagt diese geschickt unterschwellig an!” Grace durchlebt die Hölle, arbeitet in sehr unterschiedlichen Jobs und wandelt sich körperlich zur Frau.
Als die Grenze zwischen Mensch und Tier schwindet, liefert der Autor seitenlange Monologe, basierend auf direkten Assoziationen, die ihre kraftlosen Gedanken verdeutlichen und ihren entglittenen Seelenzustand sehr gekonnt beschreiben. Danach folgen 4 schwarze Seiten, die wohl den Tod symbolisieren sollen, jedoch überlebt Grace auch diese Krise.
Lynchs Erzählweise ist unglaublich intensiv, düster und wuchtig, mit ganz eigenem Rhythmus. Die Atmosphäre wir bestimmt durch Aberglauben und Anspielungen auf irische Mythen und Sagen, die teilweise in den Anmerkungen erläutert werden. Wir werden also in eine ganz andere Welt katapultiert, und auch die detailliert beschriebene Grace mit ihrem Nachgrübeln über die Seele und den Sinn des Lebens finde ich sehr authentisch. Bart, ein Weggefährte und Colly werden sympathisch als kritische Denker dargestellt.
Am Ende des Werkes ist Grace fast 19. Ihr geistiger Ausnahmezustand wird gekonnt auf 4 Seiten beschrieben und gesteht dem Leser eine eigene Interpretation zu.
Das Werk hat mich tief beeindruckt und erschüttert, andererseits hat es mich mit einer sehr speziell dargestellten Thematik konfrontiert, meine Kenntnisse über das Irland der damaligen Zeit vertieft und mich dazu animiert, mehr über dieses mystische Land und seine Geschichte zu erfahren.
Man muss sich auf diesen Roman einlassen, denn er ist keine seichte Urlaubslektüre. Er regt stark zum Nachdenken an und kann nur kritischen Personen empfohlen werden, die eine gewisse Affinität Irland gegenüber zeigen. Meine Erwartungen wurden voll getroffen!
Der Übersetzerin ist eine Meisterleistung geglückt, indem sie das typisch Irische hervorkehren konnte.