Dieses Buch ist so vieles … vor allem aber eins: lesenswert

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„Harlem Shuffle“ war mein erster Colson Whitehead – vermutlich aber nicht der letzte und das hat einige Gründe, beginnen wir mit einer Handlungsskizze:

Die Geschichte spielt in den 1960er Jahren im New Yorker Stadtteil Harlem. Hier begegnet der Leser Ray Carney, einen „unter seinesgleichen“ angesehenen Ladenbesitzer, aber eben „nur“ unter Schwarzen, denn es gibt eine klare Rassentrennung im New York der 1960er Jahre. Ray käme gern ohne Schmu klar, aber dann reicht es hinten und vorne nicht für das, was von ihm erwartet wird. Also verkauft er auch Hehlerware – bis eines Tages sein Cousin richtig heiße Ware vorbeibringt, sich verkrümelt und Ray damit alleinlässt. Es dauert nicht lange, bis sich diverse (nennen wir sie) „Interessengruppen“ (vulgo Krimininelle und Polizei) für Ray interessieren und Rays Existenz bedrohen.

Was für eine Art von Geschichte ist „Harlem Shuffle“ denn? Eine mit vielen Aspekten … zunächst trifft der Titel es auf den Kopf: Es geht um den „Rhythmus Harlems“, das Lebensgefühl dort in den 1960er Jahren. Das wird exemplarisch an Ray, seiner Familie und seinen Erlebnissen entfaltet: Es geht um Schwarze, um das sich Emporarbeiten, Stolz auf seine Leistungen, Angst vor bzw. Kampf gegen Abstieg oder Fall … Der Verlag beschreibt es treffend als „Familiensaga, Soziographie und Ganovenstück, vor allem aber eine Liebeserklärung an New Yorks berühmtestes Viertel“. Man kann es kaum besser umschreiben. Es geht um Rays Ursprungsfamilie, wie er sich hochgekämpft hat, um Rays eigene Familie, den Druck, den er von der Familie seiner Frau verspürt, seinen Willen, ihr und den Kindern mehr zu bieten als mit legalen Mitteln und Anstrengungen möglich. Deutlich wird daran, dass es mehr gab als die Rassentrennung zwischen Schwarz und Weiß, nämlich auch sowas wie Diskriminierung unter Schwarzen von den etwas besser Gestellten. Dabei gestaltet Whitehead seinen Protagonisten Ray durchweg sympathisch: Er ist einer, der sich hochkämpft, abschließen will mit kriminellen Machenschaften, aber wegen seiner Komplexe in Richtung seiner Schwiegerfamilie auch immer auf Messers Schneide balanciert; sich selbst aber auch immer hinterfragt; jemand, der es letztlich allen recht machen will und dabei selbst am meisten zu verlieren hat; ein bisschen Schlitzohr und ein bisschen tragischer Held. Zur Seite stellt er Ray zahlreiche Figuren und entfaltet die Geschichte über die Zeit von 1959 bis 1964 mit Rückblenden in die Vergangenheit; nicht eben unkomplex aber immer gut nachvollziehbar. Woran es liegt, kann ich nicht genau festmachen, vielleicht an der offensichtlichen Begeisterung und Liebe, die Whitehead für seine Geschichte mitbringt. Vermutlich ist sie es, die die Geschichte, die nach „schwerer Kost“ klingen könnte, zu einem absoluten Lesevergnügen macht, denn sie macht Hoffnung, dass heute wo „Black Lives Matter“ eine nicht kleine Bewegung ist, sich etwas zum Guten verändern könnte – denn es gelang in Whiteheads Geschichte im Kleinen ja schon in einer deutlich schwierigeren Zeit. Hinzu kommt Whiteheads Sprache, die abwechslungsreich (allein die unterschiedlichen „Stilarten“ innerhalb der Schwarzen haben zahlreiche Facetten), extrem präzise und doch literarisch und bildreich ist. Ein durchaus politisches Buch, das so unterhaltsam ist, hat echten Seltenheitswert! Ich bin begeistert und schreibe jetzt nichts mehr, damit so viele Menschen wie möglich schnellstmöglich beginnen, dieses wichtige Buch zu lesen.