Ein schlitzohriger Erzähler

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Ray Carney betreibt in Harlem einen Laden für preiswerte Möbel; sein Umsatz mit Radiogeräten ist rückläufig, seit viele Kunden sich lieber eine Musiktruhe anschaffen. Ein Mann wie Ray würde im New York der 60er nicht mit Mister angesprochen. Dennoch ist er ein angesehener Geschäftsmann, weil seine schwarzen Kunden sich darauf verlassen können, dass sie von Ray bedient werden und hier kein Risiko eingehen, wegen ihrer Hautfarbe aus dem Laden gejagt zu werden. Rays Frau Elizabeth arbeitet ebenfalls an einer Schnittstelle, die es nur in einem Staat mit Rassentrennung geben kann. Ihr Arbeitgeber ist ein Reisebüro, das Schwarzen nicht nur Hotels vermittelt, in denen sie willkommene Gäste sind, sondern das versiert darin ist, sichere Reisewege auszutüfteln, die fernab von Einflussgebieten des Ku-Klux-Klan verlaufen. Zu Beginn der Kennedy-Ära müsste Ray sich eigentlich für den Möbelgeschmack seiner Kunden und den Ausbau seines Geschäfts interessieren. Ein vertrauenswürdiger Geschäftsfreund, der für Ray als Mittelsmann handelt, setzt ihm jedoch den Floh ins Ohr, dass Ray besser verdienen würde, wenn er gewisse Waren selbst verkauft und nicht nur den Laufburschen für die gibt, die daran verdienen.

Als Rays Cousin Freddie ihn mit in einen Überfall auf die Schließfächer eines Hotels hineinzieht, lernt der gezwungenermaßen, wie Harlem außerhalb seiner kleinen Straße funktioniert. Rays Schwiegereltern gehören zur angesehenen schwarzen Elite der Stadt und hatten bisher stets auf ihren Schwiegersohn herabgesehen. Ob Ray es mit dem Profit aus Freddies totsicherem Plan endlich auf Augenhöhe mit ihnen schaffen kann? Vor dem historischen Hintergrund der Rassenunruhen von 1964 stellt Colson Whitehead ein fein geknüpftes Netz von Abhängigkeiten dar – legalen und illegalen. Als Sohn von „Big Mike“ verfügt Ray im Milieu zwar über einen gewissen Ruf, der sich jedoch schnell zum Klotz am Bein auswachsen könnte. Schließlich muss Ray nicht nur erkennen, wo in Harlem das große Geld verdient wird, sondern wie gefährlich jemand lebt, der so leicht kränkbar ist wie er.

Harlem Shuffle besteht aus drei Teilen, die 1959, 1961 und 1964 spielen und aus denen jeweils in die Vorgeschichten der Figuren gewechselt wird. Die Verbindung zwischen Ray, Freddie und zahlreichen Nebenfiguren wird durch die überlappenden Zeitebenen zusätzlich kompliziert. Whitehead erzählt Geschichte von unten, er bleibt stets nah an den Lebensbedingungen seiner Figuren und vermittelt, was es 1960 bedeutete, in Harlem schwarz zu sein. Ray wirkt als Mittler zwischen Whiteheads Lesern und dem Milieu seines Viertels, das sich spiegelt in der Schlitzohrigkeit des Erzähltons wie der Übersetzung des Slangs. Wenn ein Gauner den anderen auffordert „Nimm deine Griffel da raus“ trifft diese Übersetzung aus dem Abstand von 60 Jahren Milieu, Beziehung und Jahrzehnt perfekt, ohne ins Fettnäpfchen zu tappen.

Wer New-York-Romane liebt und sich nicht an der Vielzahl der Figuren stört, liegt hier richtig.