Kein Ort für Engel

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
owenmeany Avatar

Von

Das neueste Buch von Colson Whitehead, dem zweifachen Pulitzer-Preisträger: ich bin froh, dass ich es jetzt schon lesen durfte, nachdem mich die Nickel Boys und Underground Railroad, davon auch die grandiose Verfilmung, so beeindruckten. Nach dem Roman über die Fluchtwege der entlaufenen Südstaatensklaven und dem Buch über die Qualen Jugendlicher in einem Straflager nimmt sich Whitehead nun Ray, einen African American der 60er Jahre im New Yorker Stadtteil Harlem vor, ehrgeizig den prekären Verhältnissen entfliehend, in der er mit einem kriminellen Vater geboren wurde. Nach einem erfolgreich absolvierten Studium der Ökonomie betreibt er ein Möbelgeschäft mit gebrauchter und immer mehr neuer Ware, wobei er diesen seriösen Handel heimlich und geschickt mit der Hehlerei vermengt.

Dabei wird er wie Mahlgut zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben: seine Ehefrau entstammt einer wohlsituierten Familie, deren Vater ein gestrenges Auge auf die standesgemäße Behandlung seiner Tochter wirft, andererseits fühlt sich Ray immer noch seiner kriminellen Herkunftsfamilie verpflichtet. Besonders sein Cousin Freddie, mit dem ihn brüderliche Gefühle verbinden, bringt ihn immer wieder in brenzlige Situationen. Und dazu kommen noch ganz persönliche Kränkungen, die er gnadenlos auf Grund seiner Hautfarbe erfährt.

Den Inhalt zu referieren führte zu weit, zu vielfältig und komplex stellen sich die Verhältnisse dar, was mir die Lektüre anfangs auch erschwerte. Whitehead erweist sich wieder einmal als ein Meister des Geschichtenerzählens und der Charakterisierung von Personen anhand ihrer Biografie, aber die schiere Fülle an Agierenden schwirrte mir erst einmal nur so im Kopf herum und ich befürchtete, mir das alles keinesfalls merken zu können. Dabei ist der reine Schreibstil mit viel direkter Rede nicht schwer zu konsumieren, man muss nur fürchterlich aufpassen, weil manche Informationen zwischen den Zeilen stehen und weil der spezifische Slang bildhaft, aber nicht selbsterklärend ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auch dem Übersetzer ein Kompliment aussprechen, der das authentische Flair vorbildlich eingefangen hat. Dem entspricht auch der Begriff "Shuffle" im Romantitel, der einen tänzerischen Swingrhythmus bezeichnet.

Anfangs fragte ich mich bei so mancher Episode nach deren Daseinsberechtigung, aber spätestens ab dem dritten Teil las ich ohne abzusetzen bis zum fulminanten Ende. Wie Whitehead schließlich die Fäden zu einem großen Knoten zusammenführt und allen vorher beschriebenen Einzelheiten einen Sinn verleiht, nimmt einem den Atem. Dabei gibt er eine eindrucksvolle Darstellung der Zeitgenossen J. F. Kennedys und Martin Luther Kings und schlägt einen überwältigenden Bogen bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts, in dem die zur erzählten Zeit bereits eskalierenden Auswirkungen der Grundstücksspekulationen in Manhattan eine Rolle spielen und vor meinem inneren Auge ein zum Glück nun auch zur Vergangenheit zählender Ex-Präsident erschien.

Bei all der konsequenten Trennung der Gesellschaftsschichten, die fast schon auf Apartheid hinausläuft, nicht nur anhand rassistischer Merkmale, findet man mehr Ethos bei den gewalttätigen Kriminellen als bei dem reichen Charakterabschaum und den korrupten Gesetzeshütern. Dass aber der Lauf der Geschichte manchmal eine ausgleichende Gerechtigkeit produziert, war mir ein innerer Vorbeimarsch.

Eine solch atemberaubende Dramaturgie habe ich zuletzt bei John Irving oder Paul Auster erlebt, und ich könnte sie mir gut von den Coen-Brüdern verfilmt vorstellen.