Ihr seht jetzt, wer ich bin: a Mensch

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owenmeany Avatar

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Allenthalben ist der Extrempianist Igor Levit in den Medien präsent, nicht nur wegen seiner künstlerischen Tätigkeit mit entsprechenden Meriten wie dem Echo-Preis, sondern auch sehr kontrovers mit seinen politischen Äußerungen, zum Beispiel als er oben Genannten wieder zurückgab. Aber müssen mich letztere interessieren, für Politik und Zeitgeschichte kann ich doch kompetentere Fachleute konsultieren?

Nach der Lektüre dieses intimen Einblicks in die Psyche des hochbegabten jungen Mannes erschließt sich mir die Entstehung und Logik seiner Überzeugungen Seite für Seite immer mehr, die er so vehement und selbstbewusst vertritt. Ein steiniger Weg liegt bereits hinter ihm, steht ihm wohl auch noch bevor, denn ein solches Talent ist sogar dann schon eine Herausforderung, wenn sie nicht im Zusammenhang steht mit einer gerade in Deutschland heute leider wieder problematischen jüdischen Herkunft. Zielstrebig, dabei immer eigenwillig und nicht ohne Brüche sucht sich Igor von Kind an seinen Weg, unterstützt von der Familie, Freunden und Lehrern, deren Einfluss nicht immer zu seinem Vorteil gereicht und die er deshalb mehrmals wechselt.

Hier holt sich jemand die Deutungshoheit über sein Leben zurück, er will gesehen werden, wie er wirklich ist und nicht dem Bild entsprechen, das sich andere von ihm machen. Niemand kann ermessen, was es bedeutet, im Geschäft der klassischen Musik die Gipfel zu erklimmen, wie es die Persönlichkeit formt und zu verbiegen droht. Eine zentrale Stelle lese ich auf Seite 220: Er hat zum ersten Mal im Leben nicht das Gefühl, er müsse liefern, sondern er habe etwas zu geben.
Ein Schlüsselerlebnis ist die heimtückische Medienkampagne, in der sein Widerspruch gegen die Falschinformation eines AfDlers wiederum aus dem Zusammenhang gerissen und zugespitzt gegen ihn verwendet werden soll und wie er sich mutig der Auseinandersetzung stellt, die ihn bis ins Innerste verletzt.
Sehr beeindruckt hat mich aber dann auch wieder, wie geschickt er die neuen Medien ganz unbefangen zum Wohle Aller nutzt, zum Beispiel für seine Hauskonzerte und die Vexations von Erik Satie. Die auch heute noch herrschende Pandemie stellt in seinem Fall den Katalysator dar, der sein bisheriges Leben ganz auf den Kopf stellt und ihn zur Entscheidung zwingt, was entbehrlich ist, welche neuen Chancen es bietet und wie er es neu ordnet. Hierbei legt er den Mut zu neuen Formaten an den Tag und erntet ein Übermaß an Zustimmung von seiner Zielgruppe.

In Worte gefasst hat diese Biografie ein sachkundiger Journalist, Florian Zinnecker von der ZEIT, der seine profunden musikalischen Kenntnisse mit einem tiefen Verständnis der Künstlerseele verbindet. Durch seine subtilen Gedanken bewältigt er zusammen mit Igor Levit einen spannenden Prozess der Analyse, der assoziativ fortschreitet. Übersichtlicher hätte ich eine chronologische Darstellung gefunden, die aber die Entwicklung nicht so auf den Punkt gebracht hätte. Die Darstellungen des musikalischen Repertoires verlangen von den Lesern ein gewisses Interesse für die Musikgeschichte.

Aus all diesen Gründen halte ich es für ein in vielerlei Hinsicht herausforderndes und bereicherndes Buch.