Künstler und politischer Denker

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Ein Jahr lang hat der ZEIT-Journalist Florian Zinnecker den brillanten Pianisten Igor Levit begleitet, interviewt und wichtige Weggefährten aufgesucht. Entstanden ist keine klassische Musikerbiografie, sondern ein anekdotenhaftes, assoziatives Einfangen der Person und des Künstlers Levits, der sich auch immer wieder auf Twitter und in Talkshows über politisch-gesellschaftliche Missstände äußert – und dafür schwer angefeindet wurde und wird. Auch die diffamierende Kritik des SZ-Redakteurs Helmut Mauró wird aufgegriffen. Levits politische Kommentare und sein Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus sowie die Konsequenzen nehmen einen großen, berührenden und eindringlichen Teil des Buches ein, das die möglichen Diskrepanzen zwischen gefeiertem Musiker und gefürchteten, politischen Denker immer wieder diskutiert. Für Levit ist Musikmachen untrennbar mit politischem Aktivismus und bürgerlichem Engagement verbunden.

Bewegend und atmosphärisch sind zudem Levits gedankliche Rückblicke an seine Mutter und Kindheit sowie seine strengen und wegweisenden Ausbilder, aber auch sein musikalischer Werdegang, Karrierestationen und Reflektionen über die Musik werden immer wieder aufgegriffen. Zinnecker schreibt dabei im lässigen, stakkatoartigen Stil – die Sätze sind kurz, Überschriften sowie Kapitel nicht vorhanden. Anknüpfungspunkte, wo man sich als Leser gerade in der Biografie Levits befindet, wechseln schnell, achronologisch und sprunghaft durch Zeit und Themen. Die Absätze und Gedanken sind durch Hashtags getrennt, was an Twitter erinnert.

Der Titel bezieht sich auf die zahlreichen Hauskonzerte im Lockdown, die Igor Levit via Twitter-Streaming seinem Publikum schenkte und für die er sogar ins Schloss Bellevue eingeladen wurde. Für Levit ist es sehr wichtig, für andere zu spielen und wenn es nur virtuell geht. Aber „Hauskonzert“ ist auch eine Selbstfindungsreise des Pianisten und berührenden Beethoven-Virtuosen, der sehr viel über das „Ich“ reflektiert und selbst einige Metamorphosen und Eminem-Platten hinter sich bringen musste, um selbstbestimmt „Ich“ sagen zu können.

Der Biografie ist die Harmonie und das Vertrauen zwischen den beiden Männern anzumerken – intim, nah und offen schildert Levit in dem Gemeinschaftsbuch seine zerbrechlichen Stellen und Wunden: künstlerische Kritik in den Feuilletons, antisemitische Angriffe sowie Äußerungen, anhaltende Selbstzweifel oder der Tod des besten Freundes.

Der russischstämmige Pianist ist einer der innovativsten und besten Spieler seiner Generation und ein omnipräsenter Rastloser und Getriebener, was präzise eingefangen wird. Mit „Hauskonzert“ eröffnen die Autoren bewegende und tiefe Einblicke in das Phänomen und die Person Igor Levit sowie, wenn auch nur an der Oberfläche, in die klassische Musik, die durch seine Hauskonzerte ein breites Publikum gefunden hat. Ich bin sehr gerne in die assoziativen Gedankensprünge, Stärken und Schwächen sowie Ansichten von Igor Levit eingetaucht!

„Aus seiner Sicht ist Kunst, ist Musik ohne Positionierung nicht denkbar, jeder einzelne Takt, jeder Ton ist ein Bekenntnis. Warum also sollte er hier einen Unterschied machen?“ S. 52