Die Zeit spielt keine Rolle

Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern Leerer Stern
buecherfan.wit Avatar

Von

In Stefan Kiesbyes Roman “Hemmersmoor” kehrt Rahmen-Erzähler Christian Bobinski nach dem Tod seiner Frau als alter Mann aus Buffalo im Staat New York in das Dorf seiner Kindheit und Jugend zurück, gerade noch rechtzeitig, um an der Beerdigung seiner Freundin Anke Hoffmann teilzunehmen, die jahrzehntelang Herrin auf dem Gut der Adelsfamilie der von Kamphoffs in einiger Entfernung vom Dorf Hemmersmoor war. Dort trifft er die Freunde von früher wieder: Linde, Martin, Alex, und sofort wird die Vergangenheit wieder lebendig. Von den ersten Sätzen des Prologs an wird der Leser auf schlimme Ereignisse eingestimmt, die sich vierzig Jahre zuvor dort abgespielt haben, als die Protagonisten jung, aber keineswegs unschuldig waren.

Das fiktive Hemmersmoor liegt in Norddeutschland, irgendwo zwischen Hamburg und Bremen, in der Nähe des Teufelsmoors. Der Autor präsentiert das Dorf als geschlossene Gemeinschaft von Menschen, die Neuankömmlingen gegenüber misstrauisch und ablehnend reagieren und sie auch nach Jahrzehnten noch als “die Neuen” bezeichnen. Hier glaubt man noch an Irrlichter und Wiedergänger, an Hexen, Zauberei und den Teufel und erzählt sich die Sage vom Riesen Hüklüt, der in dem Sandhügel und dem Großen Haus der Familie von Kamphoff begraben liegen soll.

Mit kapitelweise wechselnder Perspektive lässt der Autor Christian, Martin, Linde und einmal sogar die Verstorbene berichten, was damals geschah. Da tun sich Abgründe an menschlicher Schlechtigkeit auf, und die Liste der Verbrechen, die bis auf eine geringfügige Strafe in einem Fall ungesühnt bleiben, ist lang: Vergewaltigung, Mord, Kindsmord, Geschwister- und Vatermord, Inzest, Kindesmisshandlung und Verstümmelung, ein Lynchmord an einer ganzen Familie, Kannibalismus und vieles mehr. Neid, Missgunst, Eifersucht, Hass, Kaltherzigkeit und allgegenwärtige Bosheit kennzeichnen diese Menschen, die zum Teil Täter und Opfer zugleich sind und seltsam unberührt über ihre Taten und  Erlebnisse berichten und am Ende dieselben zu sein scheinen wie früher: “Die Zeit spielt keine Rolle.” (S. 9). Dann gibt es noch das kollektive Geheimnis des Dorfes, eine verlassene Barackensiedlung aus der Nazi-Zeit, das ebenso mit Schweigen zugedeckt wird wie die eigenen Verbrechen.

Kiesbyes Roman ist zwar schaurig, aber er ist kein Schauerroman, wie der Klappentext uns glauben machen möchte. Er gehört nicht zum Genre des fantastischen Romans, sondern folgt eher dem aktuellen, zum Beispiel von Andrea Maria Schenkel mit ihrem Bestseller Tannöd begründeten Trend des “country noir“, das Dorf nicht als locus amoenus (lat. für “lieblicher Ort”) darzustellen, sondern vielmehr als locus horribilis (lat. für “schrecklicher Ort”), wo sich furchtbare Verbrechen ereignen können. Auch Michael Hanekes ausgezeichneter, in einer noch früheren Epoche spielender Film “Das weiße Band”, der ebenfalls zeigt, dass Gewalt und Verbrechen gerade in abgeschlossenen Gemeinschaften gedeihen, repräsentiert diesen Trend. Die Anhäufung von Gräueltaten - eine schrecklicher als die andere bis hin zum aktuellen Detail der neun Säuglingsskelette in Blumentöpfen - verbessert allerdings nicht die Qualität von Kiesbyes Buch.

Ich will gar nicht leugnen, dass der Roman zumindest zum Teil spannend ist, aber er hat deutliche Mängel. Die wechselnde Erzählperspektive ist nur nachvollziehbar anhand der Kapitelinhalte und Überschriften und nicht dadurch, dass der Autor die Erzählerstimmen in irgendeiner Weise differenziert. Ein weiterer, noch wichtigerer Punkt ist die sprachliche Umsetzung der eigentlich interessanten Thematik. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass der Autor nach vielen Jahren in den USA nur noch gebrochen deutsch spricht. Sein Text wimmelt nur so von grammatikalischen und lexikalischen Verstößen, und kein Lektor hat es gemerkt. Dadurch wird das Lesevergnügen, so es denn vorhanden ist, jedenfalls entscheidend beeinträchtigt.