Ein majestätischer Start ins Leben?

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buecherfan.wit Avatar

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In Marjorie Celonas Debütroman “Hier könnte ich zur Welt kommen” geht es um ein Mädchen, das von der Mutter wenige Stunden nach der Geburt ausgesetzt, von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht und schließlich von der alleinerziehenden Miranda adoptiert wird. Mit dem Originaltitel “Y” assoziiert der Leser eine Menge mehr Bedeutungen, wie im Prolog deutlich wird.
Der Buchstabe steht unter anderem für den Ort - das YMCA in Victoria -, wo der Säugling ausgesetzt wurde, vor allem aber für die zentrale Frage, die sich das Mädchen stellt und die sie unbedingt beantwortet haben will: “Why?” Warum wurde sie ausgesetzt? Woher kommt sie? Wer sind ihre Eltern?

Zwei Handlungsstränge wechseln sich in diesem Roman ab. Lily-Shandi-Samantha-Shannon erzählt als Ich-Erzählerin ihre eigene Geschichte von ihrer Aussetzung bis zu ihrem 17. Geburtstag, aber in einem zweiten Handlungsstrang berichtet sie auch über ihre Eltern Yula und Harrison und Yulas Eltern Jo und Quinn. Als allwissende Erzählerin hat sie Zugang zu den Gedanken und Gefühlen einer Vielzahl von Personen. Beide Handlungsstränge bewegen sich aufeinander zu, und dem Leser ist schon frühzeitig klar, dass sie aufeinander treffen werden.

Shannon macht in ihren ersten Lebensjahren schlimme Erfahrungen mit Vernachlässigung und Gewalt, bis sie als Fünfjährige von Miranda adoptiert wird, die eine unwesentlich ältere Tochter namens Lydia-Rose hat. Miranda begegnet Shannon mit viel Liebe, Verständnis und Geduld, aber Lydia-Rose ist eifersüchtig und will die Mutter nicht mit der neuen Schwester teilen, so dass das Mädchen auch in dieser Familie nicht gerade den Himmel auf Erden erlebt. Sie sieht sich als Kind zweiter Klasse und weiß, dass man niemals Teil einer fremden Familie wird (S. 175). Als Teenager rebelliert sie, verletzt sich selbst im wörtlichen Sinn und versucht durch ihr Verhalten, die einzige familiäre Beziehung zu zerstören, die sie hat. Sie reißt vorübergehend von zu Hause aus und macht gefährliche Bekanntschaften in Vancouver. Der Wunsch, ihre Herkunft zu kennen, wird immer stärker, und sie kontaktiert Vaughn, den Mann der damals ihre Aussetzung beobachtet hat und die Sozialarbeiterin, die ihr schließlich den Namen und die Adresse ihres Vaters gibt. Von ihm bekommt sie sehr viel später Informationen über ihre Mutter. Vaughn und ihre Adoptivfamilie machen sich an ihrem siebzehnten Geburtstag mit ihr auf den Weg.

Marjorie Celona behandelt in ihrem Romanerstling ein Thema, das in der Literatur eine lange Tradition hat, aber in ihrer Erzählung über ein ganz besonderes Findelkind vermeidet sie Klischees und durchbricht immer wieder die Erwartungshaltung des Lesers. Alles bleibt in der Schwebe. Es gibt keine einfachen Antworten, und Celona löst die Ambiguität von Entscheidungen nicht auf. Die Menschen kommen immer wieder an Weggabelungen - auch dafür steht der Buchstabe “Y” -, wo sie Entscheidungen treffen müssen. Wenn überhaupt, können sie erst im Nachhinein sagen, was richtig und was falsch oder gut und böse war. Yula und Harrison sind als Eltern untauglich, verantwortungslos und unreif, aber lässt sich damit die Aussetzung eines Neugeborenen rechtfertigen? Auf der anderen Seite kann es für ein Kind besser sein, in einer anderen Familie aufzuwachsen. So sah es auch Vaughn, als er der Polizei eine falsche Beschreibung von Yula gab, damit sie nicht ausfindig gemacht werden konnte. Yula wollte durch die ursprüngliche Wahl des Eingangs zur Kathedrale als Fundort ihrem Kind “einen majestätischen Start ins Leben schenken” (S. 292) und setzte es stattdessen großer Gefahr und jahrelangem Leid aus. Menschen haben einen freien Willen und treffen Entscheidungen, aber ihrem Schicksal entgehen sie trotzdem nicht, wie die 17jährige Shannon erkennt: “Wir bekommen, was uns gegeben wird, nicht mehr, nicht weniger.” (S. 350).

Trotz der gewöhnungsbedürftigen, erzähltechnisch gewagten Konstruktion mit der jugendlichen allwissenden Erzählerin, die die Plausibilität arg strapaziert, sogar auf den letzten beiden Seiten des Romans zukünftige Entwicklungen vorwegnimmt, ehe sie wieder in die Erzählgegenwart zurückkehrt, ist Marjorie Celonas Roman lesenswert und sehr zu empfehlen.