Die Auslöschung der Heimat

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"Niemand kann verstehen, was sich unter den Dingen verbirgt. Niemand hat Zeit, stehen zu bleiben und um das zu trauern, was gewesen ist, als wir nicht da waren. Vorwärts gehen, wie Mutter zu sagen pflegte, das ist die einzige Richtung, die erlaubt ist."

Trina wächst in einem idyllischen Bergdorf in Südtirol auf, nahe der Grenze zu Österreich und der Schweiz. Doch die Zeiten sind hart und werden noch härter, als die Faschisten in Italien die Macht ergreifen und die deutschsprachige Minderheit in Südtirol vor die Wahl gestellt wird: Entweder nach Nazideutschland auswandern, oder als Bürger zweiter Klasse in Italien bleiben. Trina entscheidet sich zu bleiben. Und auch Jahre später, als ein Energiekonzern entscheidet, für einen Stausee Dörfer und Felder zu überfluten, bleibt sie - und kämpft für den Erhalt ihrer Heimat.

Balzano hat sich mit Südtirol an eine Problemregion im Herzen Europas herangewagt. Grenzgebiete liefern immer viel Stoff für Geschichte(n), denn die Bevölkerung ist meistens durchmischt oder entspricht nicht der "Standardethnie" der Nation, zu der das Gebiet gehört. Im Falle Südtirols kommt erschwerend hinzu, dass es eigentlich zu Österreich gehörte und zum Zeitpunkt der Geschichte erst seit Kurzem an Italien angegliedert ist, Die Südtiroler sprechen kein Italienisch, die Italiener und v.a. die Faschisten betrachten sie als Bürger zweiter Klasse. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Aber wie hart die Faschisten vorgingen, das war mir nicht bekannt. Deutsch sprechen und unterrichten wurde verboten, von heute auf morgen. Deutschsprachige Lehrerinnen fanden keine Anstellung, deutschsprachige Angestellte und Beamte wurden gefeuert. Es fand eine regelrechte Italianisierung statt. Die Dynamiken und Strömungen in der Bevölkerung schildert Balzano mit viel Einfühlungsvermögen, und er erklärt sehr anschaulich, wie es zu den vielen unterschiedlichen Meinungen und den scheinbar widersprüchlichen Haltungen und Anfeindungen kommen konnte. Er macht klar: Der Faschismus ist ein Krebsgeschwür, das jede intakte Gesellschaft zu zerstören vermag.

Das Leben unter solchen Bedingungen, in einer eh schon abgeschiedenen Bergregion, ist natürlich besonders hart. Doch Trina ist eine wahrhaft starke Heldin. Durch all die schweren Zeiten bewegt sie sich mit erstaunlicher Gelassenheit, und das Einzige, das ihr wirklich etwas anhaben kann, ist das urplötzliche Verschwinden ihrer Tochter. Dieses bedingt auch die ungewöhnliche Erzählform des Romans: Trina schreibt eine Art langen Brief an ihre Tochter Marica, die sie immer wieder mit "Du" anspricht. Das verleiht der Geschichte eine tiefere Ebene, die man schnell übersehen kann.

Gleichzeitig ermöglicht diese Art des Erzählens Trina eine relativ starke Distanzierung von den Geschehnissen. Zwar ist der Roman durchaus berührend, aber nie herzduselig oder -schmerzig. Obwohl so viel Tragisches passiert, lässt Trina die Leserin nie allein mit der Verwirrung und den Schmerzen, sondern nimmt sie behutsam an die Hand und führt sie durch diese harten Lebensabschnitte.

Am Ende steht dann natürlich noch der Bau des Staudamms, der das Dorf schon seit Erzählbeginn bedroht wie ein Damoklesschwert. Hier gelingt es dem Autor sehr gut, die Ignoranz und blinde Gottesfürchtigkeit (und die damit verknüpfte Handlungsunfähigkeit) darzustellen, mit der die Bewohner dem Bauunternehmen begegnen (verkörpert durch den Mann mit Hut). Der Schmerz von Trinas Ehemann Erich wird erlebbar, und nach und nach bekommt man ein Gefühl dafür, was es bedeutet, wenn die eigene Heimat überflutet wird - es ist nicht einfach nur ein Abriss, nicht einfach nur ein Wegzug, es ist die endgültige materielle Auslöschung der eigenen Vergangenheit. Dennoch gelingt es Bolzano im letzten Abschnitt des Buches nicht vollständig, mich abzuholen, da die Geschehnisse fast wie im Zeitraffer erzählt werden, während z.B. die Flucht vor den Deutschen äußerst ausführlich geschildert wird. Aber vielleicht kennzeichnet ja gerade das den furchtbaren Verlust, den Trina und Erich erleiden: Dass Trina kaum darüber schreiben kann, dass sie es schnell hinter sich bringen will.

Balzano gelingt es in seinem neuesten Buch, auf großartige Weise historische Fakten mit einer fiktiven, aber dennoch authentischen Individualgeschichte zu verknüpfen. Genauso könnte es gewesen sein in Graun, dessen Name schon für sich spricht, egal wie idyllisch die Landschaft auch sein mag.