Eine bewegende Zeitreise

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elke seifried Avatar

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Ich habe noch nie im Vinschgau Urlaub gemacht und muss ehrlich gestehen, ich weiß nicht ob, wenn ich in Graun vorbeigefahren wäre, nicht auch nur unüberlegt über den halb im Reschensee versunkenen Kirchturm gestaunt hätte ohne das Gesehene genauer zu hinterfragen. Dies wird sicher nicht mehr passieren.

Marco Balzano entführt mit seinem Roman genau in dieses südtiroler Bergdorf, das in seiner Geschichte nicht nur einer ganz besonderen Dynamik, in der Faschismus und Nationalsozialismus bruchlos aufeinander gefolgt sind, ausgesetzt war, sondern dann auch dem Gewinnstreben eines Energiekonzerns zum Opfer gefallen ist, das die Dörfer Reschen und Graun rücksichtslos überfluten hat lassen, um diesen Staudamm zu bauen.

„Du weißt nichts über mich, und doch weißt du viel, weil du ja meine Tochter bist.“ Trina, die ihre Tochter schmerzlich vermisst, erzählt ihr hier ihre Lebensgeschichte. In einem ersten Teil „Die Jahre“, erfährt man von ihr, ihren Freundinnen Maja und Barbara, deren Traum als Lehrerin zu arbeiten, und auch, wie sich die Ehe zwischen Trina und Erich anbahnt. Einige Zeit gilt, „Bis zum Marsch auf Bozen verlief das Leben in den Grenztälern im Rhythmus der Jahreszeiten, es schien als käme die Geschichte nicht bis hier herauf. Die Sprache war Deutsch, die Religion christlich.“ Als dann aber der Duce die Macht ergreift, ändert sich einiges. „Mussolini ließ Straßen, Bäche und Berge umtaufen…Sogar die Toten haben sie gestört, diese Mörder indem sie die Inschriften auf den Grabsteinen änderten.“. Auch eine Stelle als Lehrerin ist für die drei jungen Frauen trotz erfolgreichem Diplom und Italienisch-Kenntnissen nicht mehr drin, denn „Um bloß uns nicht nehmen zu müssen, stellten sie lieber Analphabeten aus Sizilien und dem ländlichen Venetien ein.“ Das Staudammprojekt, das bereits 1911 schon einmal angedacht war, wird von der Regierung wieder aufgegriffen und hängt somit wie ein Damoklesschwert über dem Dorf. Für die Bevölkerung heißt es jetzt, wir „Dämmerten tatenlos und unterdrückt bis zum Sommer 39 dahin, als Hitlers Deutsche erschienen, um uns zu verkünden, dass wir, wenn wir wollten, Italien verlassen und ins Deutsche Reich kommen könnten.“, aber für Trinas Ehemann Erich steht felsenfest, „Ich würde nie aus Graun fortwollen, sagte er und wies auf das Tal.“, und damit ist es auch für Trina keine Frage mehr, auch wenn sie und ihre beiden Kinder sich vielleicht mit dem Gedanken anfreunden könnten. Im zweiten Teil, „Die Flucht“ wird man dann Zeuge, wie der Krieg auch vor dem Bergdorf keinen Halt macht, die Deutschen von vielen als Befreier gefeiert werden und schließlich Erich eingezogen wird, aufgrund seiner Erfahrungen aber nie mehr kämpfen will, und die beiden deshalb tief in die Berge fliehen. Das Staudammprojekt, das in diesem Teil brachliegt, wird dann im letzten Abschnitt „Das Wasser“ zum zentralen Moment. „Wir müssen die Baustelle sabotieren, bevor sie uns ertränken.“, ist hier nur ein Beispiel einer Idee neben vielen Briefen, Kampagnen und anderer Versuche, die vom erbitterten und letztendlich leider erfolglosen Kampf der verbleibenden Bevölkerung gegen den Staudamm erzählen.

Der atmosphärisch dichte Schreibstil des Autors hat mich sofort in die Geschichte gezogen. Ohne große Worte drumherum, schafft er es einen emotional sehr gefangen zu nehmen. Ganz oft hat er mich mit seiner ergreifenden Geschichte sehr berührt, teils auch richtig schockiert. Sätze wie „Einen Nazi zum Sohn zu haben sei das Schlimmste, was einem passieren könne.“, da will ich nicht zu viel verraten oder die Erfahrung als Trina mit ihrem Katakomben Unterricht auffliegt und gefangen genommen wird. „Als Pa´ mich abholen kam, rissen sie ihm den Schnurrbart aus, wie sie es immer machten, bei denen, die ihnen nicht passten.“, sind nur zwei Beispiele dafür. Als Leser darf man mit auf die Reise gehen und zwar nicht nur landschaftlich, sondern auch geschichtlich. Die Atmosphäre, die Ängste sowie Meinungen der Bevölkerung, wie gehen sie mit dem Machtwechsel, mit dem Hin und Her um und welche Auswirkungen haben die Ereignisse werden direkt erlebbar und somit ein Stück tragische Geschichte lebendig. Sehr gut hat mir zudem gefallen, dass Marco Balzano seine Geschichte auch mit einer feinen Prise Humor würzt, die das Lesen, trotz der schrecklichen Vergangenheit von der er berichtet, zu einem Vergnügen macht. „Um die Diskussion abzubrechen, zog sie an seiner Knollennase. >>Die ist ja noch länger geworden<<, sagte sie zu ihm. >> Und bei dir ist der Arsch dicker geworden!<<, erwiderte er. Má wurde dann laut: >>Da sieht man mal, was ich geheiratet haben, einen Trottel!<<, ist ein Dialog, der das ganz gut zeigt.

„Mit der Zeit ist man nah am Wasser gebaut. Und ich hasse es zu weinen, weil es idiotisch ist und weil es mich nicht tröstet.“ Trina ist eine starke Frau, die unendlich viel Leid erfahren muss, aber stets ohne sich zu beklagen versucht, sich mit den Bedingungen bestmöglich zu arrangieren. Gefühle werden bei ihr und Erich unter dem Deckel gehalten, der Autor lässt sie aber zwischen den Zeilen sehr gut erkennen. Auch in seiner Figurenzeichnung schafft er hier mit wenig enorm viel.
Und das gilt auch für die Nebendarsteller, wie z.B. Trinas resolute Mutter, „Deine Großmutter war kantig und streng, sie hegte über alles klare Vorstellungen, unterschied mühelos Weiß von Schwarz und fällt wie mit dem Beil ihr Urteil….“ Erwähnen möchte ich auch noch deren Spruch „Es wird schon einen Grund haben, wenn Gott und sie Augen vorne eingesetzt hat! Das ist die Richtung, in die wir schauen müssen, sonst hätten wir die Augen an der Seite wie die Fische!“, weil der mir sicher noch lange im Kopf bleiben wird.

Der Autor hat in seinem Roman die bewegende und persönliche Geschichte von Trina und ihrer Familie erzählt und mir damit einiges über die Geschichte des Bergdorfs Graun, das Leben der einfachen Dorfbevölkerung unter den Faschisten und dann unter Hitler, einer gefährlichen Flucht in die Berge und später vom erbitterten Widerstand gegen die Staudammbauer nähergebracht und mich dabei viel über Verantwortungslosigkeit, über Grenzen und über Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes nachdenken lassen. Völlig begeisterte fünf Sterne.