Nicht schuldig oder unschuldig?

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naraya Avatar

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Das Leben der 16-jährigen Victoria Hershberger, genannt Tori, hat sich in den letzten Wochen von Grund auf geändert. Vor ihrem Haus lauern die Reporter, ihre Eltern sind ständig bedrückt und ihr Bruder Jack spricht nicht mehr mit ihr. Und das alles nur wegen Kevin. Kevin, der angeblich schwul war und sich wegen "ein paar dummen Witzen auf Facebook" umgebracht hat. Unfair findet Tori das, denn sie hat doch gar nichts getan. Schließlich war es nicht sie, die Kevin getötet hat, sondern er ganz allein. Warum war er nicht stärker, warum hat er das alles nicht ignoriert?Tori ist wütend und so kann sie auch nicht verstehen, warum auf einmal alle Welt sie zu hassen scheint - sie ist vollkommen gefangen in sich und ihrer eigenen Sichtweise.

Doch dann, am Abend vor der alles entscheidenden Gerichtsverhandlung, muss Tori auf einmal alles in Frage stellen, was sie über sich selbst und ihre Freunde geglaubt hat. An diesem Abend klingelt das Telefon und am anderen Ende ist Andy, der behauptet, nur zufällig Toris Nummer gewählt zu haben. Von ihr möchte er nur einen einzigen Grund hören, warum er sich heute Nacht nicht das Leben nehmen soll. Zunächst glaubt Tori, dass jemand sich nur über sie lustig machen will, doch dann kommen die beiden ins Gespräch und dieses Mal wünscht sie sich nichts mehr, als Andys Leben zu retten.

Mobbing im Internet ist ein Thema, das in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Facebook und Co machen es den Menschen leicht, sich hinter dem eigenen Profil zu verstecken und andere zu beleidigen und zu quälen. Die Rechtslage ist hier nicht einfach, denn natürlich hat Tori in gewissem Sinne recht: sie hat Kevin nicht umgebracht. Dennoch enthält das Buch eine wichtige Botschaft: im rechtlichen Sinne "nicht schuldig" zu sein, bedeutet noch lange nicht, dass man "unschuldig" ist. Eine Tatsache, die unsere Protagonistin schmerzhaft lernen muss. Am Anfang war Tori mir sehr fremd, sie war egozentrisch und viel mehr damit beschäftigt, sich selbst zu bemitleiden, anstatt nur einmal an Kevin zu denken und den Teil, den sie vielleicht zu seinem Tod beigetragen hat.Umso sympathischer war mir Noah, ein Freund, wie ihn sich jeder von uns nur wünschen kann.

Der Roman wird in der Ich-Form im Präsens erzählt und bleibt immer bei Tori. So wirkt das Geschehen sehr unmittelbar und der Leser fühlt sich mittendrin. Auch die Zeitebene wird nicht verlassen, stattdessen erfahren wir die Vergangenheit in Erzählungen anderer, in Gesprächen, in Toris Gedanken und in den abgedruckten Facebook-Kommentaren, die letztendlich zu diesem fatalen Ereignis geführt haben. Der Leser kann nun für sich selbst entscheiden, in wie weit er Tori verzeihen oder verurteilen will. Das Ende kam für mich überraschend, ich hatte in dieser Form nicht damit gerechnet. Aber gerade dieser Schluss gibt dem Buch noch einmal eine besondere Eindringlichkeit. Am Ende hat Tori etwas über sich und das Leben gelernt, ganz ohne moralischen Zeigefinger, einfach nur aus der Situation heraus - doch der Preis war unglaublich hoch!

Fazit: ein Jugendbuch, dass jeder lesen sollte, um sein eigenes Verhalten kritisch unter die Lupe zu nehmen