Beklemmend, aktuell, feministisch

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missmarie Avatar

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„Die Kartei warnt die Nachbarschaft vor dem Zuzug schlechter Eltern. Ihre Namen und Fotos werden im Internet veröffentlicht. Ihr einer richtig schlechter Tag würde sie auf ewig verfolgen.“
Mit diesem einem richtig schlechten Tag beginnt Jessamine Chans Roman „Das Institut für gute Mütter“. Protagonistin Frieda ist alleinerziehende Mutter, gestresst von der Deadline ihres Arbeitgebers. Wichtige Dokumente liegen noch auf der Arbeit, in der Universität. Das Baby hört nicht auf zu schreien. Frieda lechzt nach Kaffee. Dann trifft sie eine folgenschwere Entscheidung: Frieda lässt ihre Tochter Harriet für gute zwei Stunden alleine zuhause. Ein Nachbar hört das Weinen des Mädchens und ruft die Polizei. Als Frieda schließlich von den Beamten erreicht wird, gilt sie schon als schlechte Mutter, die das Kindswohl gefährdet hat und ihre Tochter womöglich aussetzen wollte. Das Sorgerecht wird der Mutter kurzfristig entzogen, Harriet kommt zu Vater Gust und dessen neuer Freundin. Friedas Kampf um ihre Tochter beginnt. Da bietet man ihr an, an einem neuen Programm der Kinderschutzbehöre teilzunehmen. Im „Institut für gute Mütter“ soll sie lernen, wie eine gute Mutter mit ihrem Kind umgeht. Schlägt sie sich gut, wird sie Harriet vielleicht zurückbekommen. Doch im Institut angekommen wird schnell klar, dass das Wohl der KI-Puppen, mit denen die Frauen anstelle echter Kinder trainieren, wortwörtlich über allem steht – auch über den Rechten der Frauen und ihrer körperlichen Unversehrtheit.
Jessamine Chan hat mit „Das Institut für gute Mütter“ einen beklemmenden dystopischen Roman geschrieben. In einem System, das vorgibt, stets zum Wohl der Kinder zu handeln, werden Frauen zu reinen Erfüllerinnen der Kinderbedürfnisse herabgestuft. Eine gute Mutter stellt stets alles zurück, allem voran ihre Bedürfnisse nach Ruhe oder Liebe. Das bekommen die Frauen schnell vermittelt. Damit erinnert Chans Werk an Romane wie Juli Zehs „Corpus Delicti“. Statt Gesundheit steht in „Das Institut für gute Mütter“ die richtige Erziehung an erster Stelle und begründet einen totalitären, übergriffigen Staat in einer Realität, die gar nicht so weit von der unseren entfernt ist. Das Setting wird umso beklemmender als auch kleinere Vergehen und Unfälle zu Kindesentzug und Umerziehungslager führen. Wie schnell ist die Grenze überschritten? Würde man selbst diesen hohen Anforderungen entsprechen?
Frieda, die Protagonistin, hat chinesische Eltern. An ihrem Beispiel (sowie an dem vieler schwarzer Frauen im Institut) verhandelt Chan immer wieder eindrucksvoll die aktuelle amerikanische Migrationspolitik. Ohne zu offensichtlich darauf zu verweisen, zeigt die Autorin, wie die KI-Puppen rassistische Stereotype einprogrammiert bekommen. Die asiatisch aussehende Puppe beispielsweise ist immer die, die Streit zurücksteckt und geschlagen wird. Zugehörigkeit unter den Frauen wird oft entlang von race entschieden. Generell ist der Roman gut recherchiert. Chan scheint sich im Vorfeld mit den sozialen Gefügen in Frauengefängnissen beschäftigt zu haben. Denn die Beziehungen der Frauen im Institut entwickeln sich entsprechend der Beobachtungen aus gängigen Studien.
Plot und Setting von „Das Institut für gute Mütter“ erinnern aufgrund der Thematik und der Migrationsgeschichte der Protagonistin stark an Celeste Ngs „Unsre verschwundenen Herzen“. Beide Romane lesen sich wie zueinander passende Puzzleteile. Die Umerziehung und das Leid der Frauen, denen das Kind genommen wird, die Ng ausblendet, wird von Chan mehr als deutlich beschrieben. Eindrücklich treibt sie dabei die gesellschaftlichen Anforderungen, die die Gesellschaft schon heute an Mütter stellt, auf die Spitze. Beklemmende lesen sich die gut 420 Seiten, in denen Frieda alles tut, um ihre Tochter zurückzubekommen, aber so gut wie nie diesen Maßstäben gerecht werden kann.
„Das Institut für gute Mütter“ überzeugt durch Ideenreichtum, Recherche und beklemmende Schilderungen. Es ist kein einfacher Roman, aber eine große Leseempfehlung mit Stoff zum Nachdenken.