Kann man gute Mutterschaft vermessen?

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
aischa Avatar

Von

Alles beginnt mit "einem einzigen schlechten Tag": Die alleinerziehende Enddreißigerin Frieda lässt ihr Baby unbeaufsichtigt alleine. Nachbarn informieren die Polizei, und es beginnt ein Alptraum. Frieda wird das Sorgerecht entzogen, sie steht unter kompletter Überwachung der Kinderschutzbehörde und hat praktisch kein Privatleben mehr. In ihrem Haus werden Kameras installiert, Telefon, Internet und App-Nutzung werden kontrolliert. Einziger Lichtblick: Durch die "freiwillige" Teilnahme an einem einjährigen Programm in einer Besserungsanstalt erhält sie - bei positiver Bewertung - die Chance, ihr Kind wieder zurück zu bekommen.

Die Geschichte hat mich völlig in ihren Bann gezogen. Zwar wirkt Frieda etwas spröde, ihre inneren Monologe haben mich auch mal etwas ratlos zurück gelassen. Aber die Panik, die sie ob der gefühlten Hilflosigkeit gegenüber dem staatlichen Machtapparat überkommt, ist greifbar. Der Roman stellt viele Fragen, eine der größten ist: Kann man wirklich beurteilen, wer eine gute Mutter ist? Welche Kriterien können dazu herangezogen werden, wie misst man das? Bei körperlichen Misshandlungen ist die Lage relativ klar, aber wie sieht liebevolle Zuwendung aus, welche Förderung der Entwicklung des Kindes ist angemessen? Chan überspitzt den Alltag im "Institut für gute Mütter" geradezu satirisch-grotesk: Die schlechten Mütter sollen anhand von Stellvertreterkindern lernen, gute Mütter zu werden. Sie trainieren täglich mit Rotoberpuppen, die ihren leiblichen Kindern ähneln. Die Puppen zeichnen jegliche Interaktion zur anschließenden Auswertung auf. Die Mütter lernen die "richtige" Umarmung (Dauer und Druck sind vorgeschrieben), wie sie mit ihren Kindern zu sprechen haben (Tonfall, Wortwahl und Zahl der Worte sind für gutes "Mutterisch" wichtig), ja selbst ihr Gesichtsausdruck und die Körperhaltung werden bewertet.

Wie pervertiert all dies ist, wird daran deutlich, dass sich die Mütter beim monatlichen Videotelefonat mit ihren echten Kindern nicht davon abhalten lassen dürfen, sich um die Roboterkinder zu kümmern. Sie sollen also echte Gefühle für Maschinen entwickeln, um zu beweisen, dass sie gute Mütter sind. Fehler werden nicht einfach als Fehler gesehen, sondern lassen "den Wunsch zum Scheitern erkennen".

Auch ein Seitenhieb auf die unterschiedliche Bewertung von Mutter- und Vaterschaft fehlt nicht: Zwar gibt es auf dem Gelände der Besserungsanstalt auch separierte Gebäude für Väter, doch ist deren Beurteilung und Bestrafung wesentlich milder als die der Mütter. Geschickt geht die Geschichte auch auf Intersektionalität ein. Frieda steht als chinesischstämmige U.S.-Amerikanerin in der Beurteilungshierarchie der Psychologinnen etwas unter den weißen Müttern, aber deutlich über den Schwarzen. ("Wenn du Schwarz bist, bist du automatisch in Gefahr.") Chans Gesellschaftskritik ist facettenreich und bietet reichlich Diskussionsstoff.

Ein beeindruckendes Debüt, das das Potenzial hat, ein Klassiker zu werden!