Nicht ohne meine Tochter

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Sie war nur ganz kurz auf dem Haus! Frida wird ihr richtig schlechter Tag zum Verhängnis. Sie wollte nur an der Universität vorbeischauen, kurz etwas erledigen. Ihre Tochter Harriet ließ sie in dieser Zeit alleine zu Hause, unbeaufsichtigt, unentschuldbar. So sehen das auch ihre Nachbarn, die stante pede die Behörden benachrichtigen. Frida wird vor Gericht gestellt, „Vernachlässigung und Aussetzung“ lautet das Urteil. Um zu lernen, wie man eine gute Mutter wird, wird Frida für zwölf Monate in ein Institut gebracht, eine Besserungsanstalt. Hier soll sie durch gutes Betragen, hohes Engagement und Einsicht die Chance erhalten, das Sorgerecht für die kleine Harriet zurückzubekommen. Frida nimmt den Kampf auf, fügt sich in die Strukturen des Internat-Gefängnis-Hybrids, die Hoffnung, ihre Tochter bald wieder in die Arme zu schließen, fest im Blick. Ihr zur Seite: Emmanuelle, eine KI-Puppe, mit der gemeinsam sie die Werte von Mutterschaft neu erlernen soll. Doch wie groß sind Fridas Chancen tatsächlich?

„Niemand, der sie so sehen würde, käme auf die Idee, dass sie kurz davor sind, die Hoffnung zu verlieren. Dass sie gefährliche Frauen sind. […] Die nicht wissen, wie man richtig liebt“ (S. 280)

Ein „Institut für gute Mütter“ – schon der Titel dieses Debüts von Jessamine Chan suggeriert ein dystopisches Setting, in dem sich Protagonistin Frida gegen die Willkür und Omnipräsenz der Behörden ausgesetzt sieht. Die Ausgangssituation ist ungünstig, denn ihr „Vergehen“ ist schwerwiegend: Ein gerade einmal anderthalbjähriges Kind über mehr als eine Stunde auf sich alleine gestellt zu lassen, das ist schwer vorstellbar. Die Folgen jedoch sorgen für ungläubiges Augenreiben und heftige Gänsehaut-Attacken!

Frida gerät immer tiefer in den Strudel aus behördlicher Dominanz und dem Verlust ihrer Selbstbestimmung. Im Institut lernt sie andere Mütter mit ähnlichen oder schwerwiegenderen Vergehen kennen – ein permanenter Kampf um die besten Ergebnisse bricht aus. Andererseits bauen die Frauen auch Beziehungen und Freundschaften auf, um die gemeinsame Zeit der aufgezwungenen Besserung mit all ihren Schikanen und Rückschlägen besser bewältigen zu können. Insbesondere die Kommunikation mit der KI-Puppe, die zum Kindersatz und Übe-Vehikel wird, mutet gruselig an, konfrontiert sie uns als Leser*innen doch mit der Ur-Angst, die Kontrolle über unser eigenes Leben an digitale Instanzen zu verlieren. Jessamine Chan treibt ihre Erzählung sukzessive voran, lässt Frida von einer schlimmen Begegnung im Institut in die nächste stolpern. Nach und nach entfaltet sich die ganze Dramatik, zeigt auf, wie wenig Frida noch Herrin ihrer eigenen Zukunft sein wird. Die dystopischen Schlingen um ihren Hals ziehen sich fester zu, und gleichzeitig mag man mit ihr niemals die Hoffnung aufgeben, dass sich das Blatt für sie zum Guten wenden möge.

Die feministische Botschaft, die dem „Institut“ innewohnt, nämlich eine Kritik an gängigen, erzkonservativen Vorstellungen von Mutterschaft und einer noch immerwährenden Deutungshoheit über diese Begrifflichkeit, formuliert Chan eindringlich. Die bedrückend-beklemmenden Mechanismen, denen sich Frida aussetzen muss, erinnern an „1984“ und „Schöne neue Welt“ ebenso wie Atwoods „Report der Magd“. Weist das „Institut“ zwar auch an der einen oder anderen Stelle Längen auf, wo eine etwas knappere Erzählweise den Sog und die Dringlichkeit, die vor allem im letzten Drittel hervorragend funktioniert, noch erhöht hätte, so geht Chans düster-morbider Blick auf die Zukunft von Mutterschaft auf, treibt uns Schweißperlen auf die Stirn. Da lassen sich nach abschließender Lektüre auch etwas breiter geratene Passagen verzeihen! Insgesamt eine deutliche Leseempfehlung!