So spannend!

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Nur eine Stunde war sie nicht da. Eine Stunde, in der Frida ihre Tochter Harriet unbeaufsichtigt in seinem Hochstuhl ließ, um Unterlagen aus dem Büro zu holen. Und einen Kaffee trinken zu gehen. Eine Stunde, in der ein Nachbar die Polizei rief, die Einjährige vom Sozialdienst mitgenommen und Frida schließlich das Sorgerecht entzogen wurde. Sie ist verzweifelt, zumal Harriet nun bei ihrem Exmann Gust und seiner neuen Freundin Susanna lebt, der Frau, für die er sie kurz nach der Geburt ihres Babys verließ, während sie sich immer wieder den Verhören einer Sozialarbeiterin der KSB, der Kinderschutzbehörde, unterziehen muss. Doch damit nicht genug: Harriet darf sie nur kurzzeitig im Beisein der Sozialarbeiterin besuchen, und überall in ihrer Wohnung werden Kameras installiert; jedes Wort, jeder Blick, jede Handlung wird in ihrer Akte notiert, um ihre Fähigkeiten als Mutter zu bewerten und ihre Gefühle zu analysieren. Das Ergebnis ist ernüchtern: Sie sei eine Narzisstin, zeige im Umgang mit ihrer Tochter kein Einfühlungsvermögen, habe sie nicht im Griff. Es gibt nur eine Möglichkeit: Für ein Jahr soll Frida in neun Lektionen am Institut für gute Mütter lernen, die richtigen Instinkte, die richtigen Gefühle, die Fähigkeit, in Bruchteilen von Sekunden sichere, fürsorgliche und liebevolle Entscheidungen zu treffen - mithilfe von KI-Puppen. Jeder Tag folgt demselben Rhythmus: Frühstück im Gemeinschaftssaal, Unterricht, Prüfungen. Rund um die Uhr werden die Frauen von Wärterinnen und Kameras bewacht, jeder Regelverstoß geahndet und in der Kartei der Kindeswohlgefährderinnen festgehalten. Nicht selten denkt Frida daran, das Ganze auf die eine oder andere Art zu beenden, der Druck der Prüfungen und die damit verbundenen Konsequenzen, die Atmosphäre, ihr Plastik-Baby - es zermürbt sie. Doch die Sehnsucht und Sorge um Harriet hält sie wach - und nicht zuletzt die Hoffnung, die plötzlich schöpft, als die Frauen bei einem Fest auf die Teilnehmer des Instituts für Väter treffen. Vielleicht kann sie doch eines Tages, wenn sie das Training absolviert hat, ein normales Leben führen. Und eine gute Mutter sein.

"Sprechen Sie mir nach: Ich bin eine schlechte Mutter, aber ich lerne, eine gute zu sein." (S. 115)

Erschreckend echt und mitreißend entwirft Jessamine Chan in ihrem Debütroman "Institut für gute Mütter", aus dem Englischen von Friederike Hofert, ein dystopisches Setting, das nachdenklich stimmen lässt. Im Mittelpunkt der Handlung steht Frida: Als Tochter chinesischer Immigranten wurde sie schon seit ihrer Kindheit mit Rassismus konfrontiert, wurde gemobbt, ausgegrenzt, und auch Jahre später noch, als Mutter eines anderthalbjährigen Kindes, erwachsene Frau, Akademikerin, wird sie aufgrund ihres Äußeren bewertet – und damit auch ihre Fähigkeiten als Mutter. Bewusst spielt Chan mit gängigen Klischees, überspitzt sie und verstärkt so noch die dystopische Atmosphäre. Alleine die Vorstellung, rund um die Uhr von Kameras gefilmt zu werden, ständig in Angst, etwas Falsches zu tun, zu sagen, das hat schon etwas von Affen im Zoo, oder einem kruden Forschungsexperiment. Oder einer geheimen Sekte: Es ist den Frauen verboten, jemals über das zu sprechen, was am Institut passierte, ansonsten werden sie niemals wieder Fuß fassen, ein normales Leben führen können. Und: kinderlos bleiben.
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"Nicht jede von ihnen kam als gewalttätige Frau in die Schule, aber jetzt, nach sieben Monaten, wären sie alle dazu fähig jemanden zu erstechen." (S. 289)
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Die Gründe, in das Institut „eingewiesen“ zu werden, um es ein wenig überspitzt auszudrücken, reichen von der Verletzung der Aufsichtspflicht und Vernachlässigung über körperliche Gewalt bis hin zum Posten eines Videos auf Instagram. Übertrüge man das in die heutige Gesellschaft, gäbe es eine KSB, die Social-Media-Accounts überwachte, wäre „dieser Campus ... brechend voll“ (S. 119). Unterschwellig übt Chan Kritik an der medialen Exposition von Kindern durch ihre Eltern, wie sie schon bei Delphine de Vigan, „Die Kinder sind Könige“, manifest wurde. Ein plausibler Grund, einer Mutter das Sorgerecht zu entziehen, ist das sicher nicht, natürlich überspitzt die Autorin hier wiederum die Causa, aber ich finde, dass sie einen wichtigen Punkt trifft. Im Allgemeinen sind die Dynamiken - oder Lehrmethoden der ausschließlich weiblichen Trainerinnen - sehr fragwürdig: emotionale Folter, Leistungsdruck, Peinigung, Rassismus. Homosexualität sei "unmütterlich", das KI-Baby wie ein echtes aus Fleisch und Blut zu behandeln. Jede Mutter erhält gemäß Hautfarbe und ethnischer Zuschreibung ein entsprechendes "Simulationsmodell", anhand dessen sie Fürsorge und Kommunikationsfähigkeiten, die Grundlagen des Spielens und die Verhütung von Gefahrensituationen lernen sollen. Die Puppen sind mit Kameras und Sensoren ausgestattet, die jeden Gesichtsausdruck, jede Gefühlsregung aufzeichnen, Vitalwerte der Mütter messen, und auf ihre Aufrichtigkeit hin auswerten. Jedoch sind die Umstände, unter denen sich die Mütter um die "Kinder" kümmern sollen, nicht dieselben wie im echten Leben: Im Institut sind sie alleinerziehend, müssen die Carearbeit selbstständig stemmen. Ihnen wird suggeriert, dass man als Mutter nicht erwerbstätig sein darf, sondern sich ausschließlich um das Wohl des Kindes zu kümmern hat: "Legt die Schule ihnen im Grunde genommen nicht nahe, dass sie einen Partner brauchen, der das Geld nach Hause bringt? Werden sie nicht zu Hausfrauen und Muttern ausgebildet? Wo soll das Geld denn sonst herkommen? Über Lohnarbeit, Tagesbetreuung oder Babysitter haben die Betreuerinnen noch kein Wort verloren." (S. 315)
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Am Ende jeder Lektion werden sie geprüft, doch aus einer simplen Lernzielkontrolle wird schnell ein Wettbewerb, die Stimmung zwischen den Frauen kippt: Wer kann sein schreiendes Kind schneller zur Ruhe bringen, wer umarmt liebevoller, kann sein Kind am schnellsten aus einem verschlossenen Auto retten? Es ist kein Kampf mehr gegen das System, schon längst haben sich die Sympathien gewandelt; es ist jede gegen jede. Eine Reality-Show gone wild, dagegen ist das Dschungel-Camp ja pippifax. Das hier sind die Hunger-Spiele! Und ich muss sagen, die Vibes gefallen mir ziemlich gut.
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Doch Chan zeigt auch eine andere, eine verletzliche Seite: Einsamkeit, Sehnsucht, sie vermissen ihre Kinder, ihre Familien, körperliche Nähe. Man stelle sich einmal vor, ein Jahr lang keine Wärme, keine Umarmung zu spüren, dieses Prickeln des Oxytocins, wenn Haut auf Haut trifft, Geborgenheit wie eine Decke über einen legt. Chan transportiert die Gefühle ihrer Protagonistinnen lebhaft und empathisch, zeigt ihre durch und durch menschliche Seite in dieser künstlichen Welt, wenngleich die Isolation sich bei jeder von ihnen unterschiedlich zeigt - und noch einmal eine besondere Wendung nimmt, als die Frauen nach Monaten zum ersten Mal wieder auf Männer, auf die Väter des benachbarten Campus treffen.
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Die Geschichte um Frida und das Institut hat mich von der ersten Seite an gefesselt und die moralischen und ethischen Konflikte sowie die immer wieder anklingende Kritik an der patriarchal geprägten Gesellschaft, die Mutterschaft noch immer eindimensional und heterogen sieht, und die Rolle des Frau auf die der Mutter reduziert, nachhaltig beschäftigt. Teilweise zog sich die Handlung ein bisschen, fand dann am Ende für meinen Geschmack zu übereilt zum Ende, ein wenig unbefriedigend vielleicht auch, aber das hat meinen positiven Eindruck nur minimal beeinträchtigt. Das dystopische, gameshowartige Setting, die teilweise stark überzeichneten, simplen Dialoge und Handlungen und das Spiel mit verschiedensten Klischees verleihen der Thematik eine gewisse Lebendigkeit und Brisanz. Ein eindringliches, lange nachhallendes Buch. Große Empfehlung