Auf Distanz geblieben

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Eine junge Frau kommt aus New York als Dolmetscherin an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, um schließlich in einem Prozess gegen einen westafrikanischen Kriegsverbrecher eingesetzt zu werden. Kurz nach ihrer Ankunft lernt sie den Niederländer Adriaan kennen, mit dem sie eine vielfach ungeklärte Beziehung verbindet. Eines Tages verschwindet dieser zu seiner Exfrau nach Lissabon, angeblich, um sie um die Scheidung zu bitten, und lässt nichts mehr von sich hören. Die heimatlose Heldin droht den Boden unter ihren Füßen zu verlieren…

Um es vorweg zu nehmen: so ganz überzeugt hat mich dieser Roman nicht.
Alle Passagen, die sich um die Geschehnisse am Gerichtshof drehen, fand ich absolut fesselnd. Was macht es mit den Dolmetschern, wenn sie, den Opfern ihre Sprache leihend, in der Ich-Form furchtbare Gräueltaten bezeugen müssen? Wie lässt sich die ungewollte Intimität vermeiden, die entsteht, wenn man einem Verbrecher ins Ohr flüstern muss? Messerscharf lässt Kitamura ihr Hauptfigur Auftritt, Sprache und Gebaren aller Beteiligten analysieren, in der Wortwahl subtil, präzise und zurückgenommen. Überhaupt zeichnet sich der Roman durch eine hohe sprachliche Qualität aus; es ist wirkliche Literatur, die Übersetzerin Kathrin Razum ebenso perfekt kühl-verhalten ins Deutsche übertragen hat.

Ein eigentlich hochspannender Plot um das Thema Nähe, der im Gesamtwerk für mich dennoch nicht wirklich funktionierte. Das lag vor allem daran, dass ich weder mit der Protagonistin noch einer anderen Person je warm wurde.
Eine zutiefst einsame Ich -Erzählerin, die scharf beobachtet, und alles, was sie wahrnimmt - sich selbst und alle um sie herum - präzise analysiert, hinterfragt und durchaus klug reflektiert, stets begleitet von einer gewissen Bitterkeit. Es gibt keine Reaktion, die sie ratlos zurückließe, keine Stimmung, die sie nicht wahrnähme oder nicht interpretieren könnte, doch das rettet sie irgendwie nicht, denn sie lässt sich treiben und verharrt in Unschlüssigkeit, in purer Duldung. Ihre Liebesbeziehung wird nie so innig geschildert, dass es die Verzweiflung erklären könnte, die sich nach Adriaans Verschwinden und dem monatelangen Schweigen plötzlich breitmacht.
Es macht sie auch nicht sympathischer, wie sie alle(s) in Frage stellt, entlarvt und doch mit sich selbst nicht weiterkommt und bis zum Ende in vieler Hinsicht anonym bleibt, als Persönlichkeit nicht fassbar wird. Das liegt vielleicht auch daran, dass es wenige Informationen über ihr Leben vor dem Einsetzen der Romanhandlung gibt, wie beispielsweise die etwas ruhelose Kindheit, die aber nicht allein Grund für ihre innere Isolation sein kann. Auch die Arbeit am Gerichtshof verbindet sich nicht schlüssig mit ihrem Privatleben, detailliert geschilderte Episoden laufen ins Leere, als gäbe es zwei parallel verlaufende Erzählstränge.
Die beiden Entscheidungen am Ende des Buches, eine die Arbeit am Gerichtshof betreffend, die zweite ihre Beziehung zu Adriaan, trifft sie weniger aus einer inneren Stärke heraus als vielmehr der Umstände halber.
Und auch wenn der Roman nicht zu meinen Lieblingsbüchern zählen wird, so ist er als Hörbuch doch perfekt eingelesen. Katja Danowski versteht es meisterhaft, die melancholische Grundstimmung und die Verlorenheit ihrer Hauptfigur einzufangen, die sich eigentlich nur eines sehnlichst wünscht: irgendwo zu Hause zu sein.