Perspektivenkarussel

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marapaya Avatar

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Nach der Lektüre mancher Bücher, tauche ich Luft schnappend wieder nach oben in die Wirklichkeit und bin unsagbar dankbar für mein recht überschaubares Leben. Natürlich könnte ich auch Geschichten erzählen über meine Kindheit, meine Jugend, meine Eltern, meine Geschwister, meine erste Liebe und so weiter. Aber letztlich bin ich zufrieden mit mir und meinem Leben und weiß, beim Nachbarn ist das Gras auch nicht grüner. Edie und Mae hingegen sind ihren Eltern in einer Art und Weise ausgeliefert, dass sie den Vergleich zu anderen gar nicht in Betracht ziehen können. Die beiden Schwestern wachsen in einem kleinen Kaff in Louisiana auf. Der Vater ist ein Schriftsteller und lebt in New York. Mae mit ihren 14 Jahren kann sich nicht an ihn erinnern, so jung war sie, als er die Familie verließ. Edie hingegen erinnert sich sehr wohl und ist nicht bereit ihm zu verzeihen oder ihn gar Dad zu nennen. Doch nun sind beide gezwungen mit ihm auszukommen, bis es ihrer Mutter wieder besser geht. Marianne ist krank, leidet seit Jahren an einer psychischen Störung, ist eigentlich überfordert mit der Kindererziehung und auch nicht besonders gut darin. Kürzlich hat sie ihrem Leben ein Ende bereiten wollen und sich versucht in der Küche aufzuhängen. Edie hat sie gefunden und gerettet, zum Dank sind sie nun beim Vater in New York, während Marianne in einer Klinik wieder zu sich kommen soll. Während Edie ihren Vater ablehnt, beginnt Mae Dennis zu vergöttern. Die beiden Schwestern entfernen sich voneinander und beginnen beide einen jeweils anderen unheilvollen Pfad zu beschreiten, auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit.
Katya Apekina lässt ihre Geschichte ganz im Trend der Zeit aus wechselnden Perspektiven zu erzählen. Beginnend mit den beiden Mädchen zum Zeitpunkt kurz nach der Einlieferung der Mutter in eine Nervenklinik, spinnt Apekina die Handlung entlang dieser Zeitschnur im Jahre 1997 und holt ab und zu Fäden aus der nahen oder weiteren Vergangenheit hinzu. Tagebucheinträge, Briefe, Meinungen von Randfiguren als Zeitzeugen der Geschichte wechseln sich in immer schneller werdender Reihenfolge ab. Zwischendrin driften die beiden Hauptfiguren ab, teilen sich auf. Edie fährt zur Mutter, will sie retten. Mae bleibt beim unbekannten Vater und wird zur Verkörperung ihrer Mutter, um seine Aufmerksamkeit zu behalten. Beide Mädchen sind diesen Erwachsenen ausgeliefert, ohne einen Anker oder einen Richtwert für die Normalität, für Moral und Anstand. Es sind verstörende, faszinierende, berührende und abschreckende Szenen, die Apekina ihrem Leser zumutet. Verstörend vor allem wegen der Erwachsenen, die so um sich selbst kreisen und die Mädchen nicht wahrnehmen, sondern sie als Projektionsfläche ihrer angeschlagenen, fehlgeleiteten Psyche missbrauchen. So eindrücklich die Autorin ihre Geschichte auch in ihrer Multiperspektivität verpackt, so schwierig bleibt die Wahrheitsfindung. Es scheint eigentlich keine „normale“ Figur in diesem Buch zu geben. Auch Edie und Mae beginne ich als Leser irgendwann zu misstrauen. Sie erzählen mir vielleicht die Wahrheit, aber wie sicher kann ich sein, dass sie wissen, was die Wahrheit ist? Es ist ein wenig so wie in den True Crime Serien im Fernsehen. Verbrechen werden so pseudo-realistisch wie möglich nachgestellt, Zeugen kommen zu Wort, Ermittler teilen ihre Ergebnisse mit. Man will sich als Zuschauer eigentlich die ganze Zeit abwenden, weil man weiß, dass das Verbrechen bereits geschehen ist und bleibt doch dabei, in der Hoffnung, dass sich das Blatt noch wenden wird oder zumindest der Täter seine Bestrafung findet und vor allem das Warum geklärt wird. Nach dem Ende der Folge frage ich mich meistens, warum ich die Sendung angeschaut habe. Warum das Verbrechen geschehen ist, kann oder will der Täter in der Regel nicht beantworten. Ich bleibe dann mit diesem hilflosen Gefühl der Ohnmacht zurück. Genau so geht es mir nach diesem Roman. Ich verstehe nicht ganz, warum mir diese Geschichte erzählt wird. Um mich zu warnen, dass manche Menschen emotionale Vampire sein können? Dass nicht jeder, der Kinder bekommen kann, auch welche bekommen sollte? Dass man auch durch toxische Erfahrungen seinen Weg zum Erfolg finden kann? Das wahre Kunst nur aus gebrochenen Individuen hervorgehen kann? Ein leiser Zweifel meldet sich, ob die Autorin sich hier bestimmter Themenfelder und sprachlicher Mittel bedient hat, gerade weil sie empören, abstoßen und von der Norm abweichen. Mit Berechnung sozusagen.