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»Ich weiß nicht mehr, warum wir das alles tun. Wir geben uns so viel Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen.«

Juli: Die fünfjährige Rosa reagiert zutiefst verstört, als ihr bei einer Freundin die Geschichte von Anne Frank vorgelesen wird. Mutter Lou fühlt sich schuldig, als das Mädchen ihr von der Situation berichtet. Denn ihr Mann und sie sind zwar selbst jüdisch, praktizieren ihren Glauben aber eigentlich nicht – aber warum ist das so? Wie ist es in ihren Familien dazu gekommen, und was bedeutet so eine jüdische Identität überhaupt? August: Lous Fragen gehen beinahe direkt in eine Sinnkrise über, als ihre eigene Mutter sie auffordert, gemeinsam mit Rosa und ihr, zum 90. Geburtstag der Großtante nach Gran Canaria zu reisen. Was soll schon schiefgehen, wenn sich die jahrzehntealten, unausgesprochenen Konflikte aller Beteiligten mit ihren Identitäts- und Glaubenskrisen vermischen – und schlussendlich viel tiefere Probleme freilegen? Wenn der Mai alles neu macht, kann dann ein August in Israel alte Wunden heilen?!

In ihrem neuen Roman »Juli, August, September« erzählt Olga Grjasnowa eloquent vom Dazwischen, von den Anteilen, die sich scheinbar ausschließen: einer deutsch-jüdischen Identität, dem Anschluss im Ausschluss, familiärer Fremde, dem Unaussprechlichen im Gesagten – es ist kognitive Dissonanz, die Protagonistin Lou durchs Leben zu tragen scheint. Ihre Gefühls- und Gedankenwelt bildet den Rahmen für die schmale Handlung. Ganz deutlich sind es die Leerstellen und Doppeldeutigkeiten, die hier Tiefe verleihen und, die es für Leser:innen genauestens zu ergründen gilt. Am besten klappt das wohl im Buddyread oder Buchclub – ich für meinen Teil habe jedenfalls eine Person zum Diskutieren vermisst, weswegen das Buch mich schlussendlich auch etwas weniger beeindruckt hat, als ich erwartet hätte. Grjasnowa gelingt mit »Juli, August, September« aber ein vielseitig-feines und stellenweise humorvoll-zynisches Buch, das für meinen Geschmack nur gern noch 200 Seiten mehr haben könnte, damit die vielen wichtigen Fragen am Ende auch eine Antwort erhalten und nicht alles in der Fantasie von uns Leser:innen liegen muss.