Eine Sinnsuche zwischen Familienkonflikten, dem Leben, der Einsamkeit

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herrfabel Avatar

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Ich mag es, wie Olga Grjasnowa sehr aktuelle, gesellschaftliche 'Probleme' einfängt, davon erzählt, nicht zu viel erzählt, teilweise gar etwas verwirrt und doch so tiefgründig beleuchtet. In "Juli August September" lernen wir Leser*innen Lou und ihre jüdische Familie kennen. Ihr Mann ist ein sehr bekannter Pianist, sie arbeitete in einer Galerie, befindet sich nun allerdings mehr oder weniger auf Sinnsuche. Eines Tages möchte ihre Tochter Rosa bei einer Freundin aus dem Kindergarten übernachten, um dann tränenüberströmt noch am gleichen Abend abgeholt zu werden. Zuhause erzählt sie von einem Buch, das sie bei ihrer Freundin gelesen habe. Ein Buch von Adolf Hitler, der etwas gegen Jungen hätte...oder das Bilderbuch über das Leben der Anne Frank, wie es ihre Mutter vermutete. "Rosa wusste natürlich, dass sie jüdisch war, sie wusste nur nicht, wie viele Menschen aus diesem Grund ermordet worden waren, und ich hoffte, dass es noch eine Weile lang so bleiben könnte." Doch was machen sie jetzt? Rosa war noch nie in einer Synagoge, noch kam sie bislang auch nur in den Kontakt mit jüdischen Traditionen. Wann ist der richtige Zeitpunkt um mit Kindern über so etwas in der heutigen Zeit und mit dem geschichtlichen Hintergrund zu sprechen?

" 'Ich weiß nicht, ob wir sie schon mit fünf traumatisieren sollen', sagte ich.
'Wenn das Judentum traumatisierend ist, sollten wir es vielleicht lassen.'
'Und konvertieren?'
'Gott behüte.' Er küsste mein Ohrläppchen.
Als ich meine Hand an seine Taille legte, sagte er: 'Weißt du, du achtest penibel darauf, dass sie genug Bücher hat, in denen Schwarze Kinder vorkommen. Sie weiß alles über Rosa Parks und Martin Luther King. Aber sie hat noch nie eine Synagoge von innen gesehen.'
'Das einzige Kinderbuch, das es hier über Juden gibt, ist das Anne-Frank-Buch.'
'Und das kennt sie nun', stellte er nüchtern fest.
'Sie glaubt, Hitler hat es geschrieben.'
'Meinetwegen.' Sergej ließ mich los und setzt sich an den Tisch. Auf einmal sah er müde aus. Die Ringe unter seinen Augen waren dunkel. ''Möchtest du Pasta?'"

Ist eine der sehr bezeichnenden Diskussionen zwischen ihnen. Irgendwie sind sie nicht mehr die Familie, die sie einst waren, es ist so etwas wie Erschöpfung eingekehrt. Sergej ist ständig unterwegs, spielt hier und da. Lou... nun ja. Als dann eine Einladung zum 90.Geburtstag ihrer Tante eintrifft und sie, Rosa und ihre Mutter nach Gran Canaria führt, wo sie auf den Rest der Familie, den 'ganzen ex-sowjetischen Clan aus Israel' treffen, wird dieses ganze familiäre noch einmal auf eine ganz andere Probe gestellt. Wie geht man damit um, wenn Erzählungen von früher plötzlich ganz anderes erzählt werden? Wie wenn der eigene Familienzweig in den Schatten gestellt wird? Alle ständig fragen, wann sie sich scheiden lassen? Ihr ständig sagen wie deutsch sie denn wäre. Es ist ein schmaler Grad zwischen wirklicher Wiedersehensfreude und Missgunst und doch scheint Lou garade darin Antworten auf all ihre Fragen finden zu wollen.

"Ich weiß nicht mehr, warum wir das alles tun. Wir geben uns so viel Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen."

Und das ist es, was ich sehr an diesem Roman von Olga Grjasnowa fasziniert hat. Sie gibt keine wirklichen Antworten auf all die vorherrschenden Fragen und Probleme und doch gewinnt man als Leser*in einen guten Eindruck von der inneren Zerrissenheit und Verzweiflung. Sehr empathisch und doch so unvorhersehbar ist dieser Roman, der nach dem Lesen leider schon wieder ein wenig verblasst und doch so viele große Themen vereint. Es ist ein kurzer Ausschnitt einer Sinnsuche zwischen all dem Leben, der Einsamkeit, der Religion und Familie. Für die ganz große Begeisterung hat mir etwas gefehlt, aber als eine Art 'Zwischendurch-Roman' fand ich ihn schon sehr groß.