Außergewöhnlich!

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susanne probst Avatar

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Der Niedergang eines isländischen Dorfes, ein Sheriff, der Grönlandhaie, Polarfüchse und Schneehühner jagt und ein Kriminalfall!

Mit Beginn der Lektüre begegnen wir dem ratlosen Kalmann, der gedankliche Zuflucht bei seinem Großvater sucht.
Wie hätte der wohl an seiner Stelle reagiert, wenn er in der Stille und Kälte des verschneiten Hinterlands von Melrakkaslétta, einer Halbinsel im äußersten Nordosten von Island, plötzlich eine Blutlache im Schnee entdeckt hätte?

Der 33-jährige sympathische Kalmann, Ich-Erzähler der Geschichte, ist geistig retardiert, wirkt daher recht kindlich und hat Schwierigkeiten, mit Veränderungen und überwältigenden Gefühlen umzugehen.
Er ist bei seinem geliebten und geschätzten Großvater, einem gutmütigen, geduldigen und klugen Jäger und Haifischfänger, in Raufarhöfn, einem kleinen Ort auf der Halbinsel Melrakkaslétta, und bei seiner Mutter, die aber meist beim Arbeiten war, aufgewachsen.

Inzwischen hat Kalmann seinen Platz in der Dorfgemeinschaft gefunden und sitzt sein Großvater dement im Pflegeheim.

Der Großvater hat Kalmann aufs Leben und Überleben vorbereitet und ihn geduldig und erfolgreich in die Kunst und Geheimnisse des Jagens und Haifischfangs eingeweiht.

Er hat seinem Enkel Haus, Gewehr und Boot hinterlassen, so dass Kalmann ein Dach über dem Kopf hat, Geld verdienen und sich recht gut selbst versorgen kann. Wenn Not am Mann ist, kann er auf seine Mutter zählen.

Kalmann, der selbst ernannte Sheriff von Raufarhöfn, kann Polarfüchse und Schneehühner erlegen und Grönlandhaie fangen.
Und er macht den zweitbesten Gammelhai auf der ganzen Insel. Gammelhai?
Ja, schon richtig gelesen!
Das ist wohl eine nach Ammoniak stinkende, zähe, gummiartige und glitschige Spezialität, die man am Besten mit Alkohol runterspült.
Es heißt, die Isländer würden Gammelhai nur noch essen, um anschließend einen Grund zu haben, Schnaps zu trinken ;-)

Kalmann, gleichermaßen ahnungslos, vertrauensselig, ehrlich und unbedarft, wie schlau, geschickt und altklug, hat nun also, wie oben bereits erwähnt, während einer Jagd auf einen Polarfuchs diese Blutlache entdeckt... und der Schulrektorin Hafdís davon erzählt.

Kurze Zeit später kursiert die Neuigkeit, dass der einflussreiche und vermögende Hoteldirektor Róbert McKenzie vermisst wird...Frieden, Harmonie und Ruhe sind dahin.

Kalmann wird von einer Polizistin zum Verhör einbestellt und „wird nervös, fühlt sich schuldig, auch wenn er überhaupt nichts verbrochen und niemanden umgebracht hat.“ (S. 35)

Im Verlauf der Lektüre kommen wir Kalmann, seinem Alltag und seiner Vergangenheit näher, lesen wir über das Verschwinden McKenzies und inwiefern Kalman in den Fall verwickelt ist.
Wir bekommen aber auch einen guten Einblick ins Dorfleben und lernen einige Bewohner kennen.
Es ist, als wäre man vor Ort und Teil des Geschehens.

Es macht sehr viel Spaß, Kalmann zu begleiten, von seinem Aufwachsen zu erfahren und in sein Leben einzutauchen.
Immer wieder überkam mich Mitgefühl für den heranwachsenden Kalmann, der es nicht gerade leicht hatte, weil man Späße mit ihm trieb und er nicht selten belächelt wurde.

Gleichzeitig empfand ich aber auch Bewunderung und Zuneigung für den erwachsenen Kalmann, der beherzt, optimistisch und lebensfroh sein Leben meistert und im Ort integriert und geschätzt wird.

Der Autor schreibt flott, spannend und respektvoll.
Was dabei herauskommt ist ein herzerwärmender und nicht selten amüsanter, witziger, zum Schmunzeln und Nachdenken anregender Roman.

Besonders beeindruckt haben mich all die Informationen zu Islands Fauna, Flora, Geschichte und Politik, die man en passant erhält.
Dass der Schweizer Autor weiß, wovon er schreibt, ist spürbar.
Er hat mit 16 Jahren seine Faszination für Island entdeckt und lebt nun schon seit 13 Jahren dort. Seine Bewunderung für Islands Natur und seine umfassenden Kenntnisse über das Land, die er nicht zuletzt in seiner Ausbildung zum Reiseleiter erworben hat, verarbeitet er in dem Roman.

Landschaft und Klima von Island kann man sich auf Grund der bildhaften Beschreibungen wunderbar vorstellen.
Man hat das Gefühl, Kalmann auf seinen Touren zu begleiten.

Sehr interessant fand ich, am Beispiel von Raufarhöfn, über die Problematik der kleinen isländischen Fischerdörfer zu lesen und politische Hintergründe zu erfahren.

Die Auswirkungen der Überfischung sowie die Einführung und Folgen der Fangquoten werden erwähnt und man versteht, warum aus dem einst geschäftigen und lebendigen Hafenort, der für seinen Heringsfang im Speziellen und für seinen Fischfang im Allgemeinen berühmt war und in dem es vor Seeleuten und Hafenarbeitern nur so wimmelte, ein fast ausgestorbenes Dörfchen wurde, in dem es gerade noch einen zeitweise geöffneten Dorfladen und eine Schule gibt.

Vor der Lektüre wusste ich nichts über Grönlandhaie, die Jagd auf sie oder die Zubereitung, geschweige denn die Existenz von Gammelhai.

„Kalmann“ ermöglicht einen Blick über den Tellerrand.

Einen Kritikpunkt möchte und muss ich erwähnen.

So in etwa nach 100 Seiten stieß ich immer wieder auf eine Diskrepanz.
Einerseits zeichnet der Autor Kalmann als geistig retardierten Mann, andererseits gibt er ihm Fähigkeiten, die ein solcher nicht haben kann.

Ein zurückgebliebener Mann wie Kalmann kann solch’ differenzierte Gedanken, wie Joachim B. Schmidt sie manchmal formuliert, nicht in dieser Form denken.
Er kann komplexe Vorgänge und Gefühle auch keinesfalls so präzise beschreiben und er ist auch nicht in der Lage, so tiefgründige Reflexionen, z. B. über die wirtschaftliche Lage des Ortes anzustellen.
Außerdem ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er so eloquente Wörter wie „repetieren“ verwendet.
Es fiel mir schwer, abstrakte Äußerungen und kluge Kommentare Kalman zuzuordnen.

Der Autor hat sich für diese Erzählperspektive entschieden, hält sie aber nicht durch und dadurch büßt der Roman an manchen Stellen etwas an Glaubwürdigkeit ein.

Aber eben nur an manchen Stellen! Oft zeichnet er ein sehr realistisches, glaubhaftes und treffendes Bild von Kalmann:
Der junge Mann ist leichtgläubig und kann die Komplexität der Dinge nicht erfassen. Er ist sehr konkretistisch, sein Abstraktiondvermögen ist herabgesetzt. Er bleibt am Detail hängen.
Kalmann kann Gefühle zwar empfinden, hat aber Schwierigkeiten im Umgang damit. Intelligenz, Lernfähigkeit, soziale und emotionale Reife sind herabgesetzt.
All das zeigt der Autor wunderbar und dadurch bekommen wir ein sehr lebendiges Bild von Kalmann.
Und genau deshalb irritieren diese anderen, oben genannten Stellen.

Trotzdem überzeugt mich der Roman, in dem viel Reales verarbeitet wird.

Über den oben genannten Kritikpunkt kann ich gut und gerne hinwegsehen, weil der Rest einfach bereichernd ist: unterhaltsam, amüsant, interessant, spannend und informativ.

In dem Roman spielt ein Kriminalfall eine zentrale Rolle, aber er ist so viel mehr als ein Krimi.
Er ist eine gelungene Kombination aus Islandroman, Kriminalroman und Lebensgeschichte, eingebettet in Reales, Wissenswertes und Aktuelles.

Und eins verspreche ich:
Gegen Ende erwartet den Leser ein fulminantes Finale, ein Showdown, das in keiner Weise vorhersehbar war!!!
Chapeau!

Ich bin sehr froh, „Kalmann“ gelesen zu haben und empfehle den Roman sehr gerne weiter!