Kalmann, der Unzuverlässige

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"Als wüde das Meer alle Erinnerungen schlucken, oder als würde sich das Gehirn wegen seiner Größe ausweiten, und die Erinnerungen sind dann tief drin verborgen wie eine Flaschenpost im Ozean."

Kalmann ist der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn. Seit sein Großvater im Altersheim in Húsavík ist, ist er außerdem der einzige Gammelhai-Experte vor Ort - und sein Hai ist der beste in ganz Island! Am meisten wünscht sich Kalmann aber eine Frau an seiner Seite. Doch das muss ein bisschen warten, bis er wieder aus dem Schlamassel heraus ist, in das er gerät, als er eine Blutlache im Schnee findet.

Wie der Autor so schön schreibt: In Kalmanns Kopf scheinen die Räder manchmal rückwärts zu laufen. Er ist ein mehr als eigenwilliger Erzähler, der mit Schulbildung und sonstiger geistiger Betätigung nicht viel am Hut hat, von seinem Opa aber zu einem hervorragenden Jäger und Gammelhaiexperten ausgebildet wurde. Kalmann beweist, dass schulische Leistungen nichts über die Intelligenz und die Fähigkeiten eines Menschen aussagen, und damit trifft Schmidt einen wunden Punkt unserer prüfungsorientierten Gesellschaft. Für das Leben im Mini-Dorf Raufarhöfn am nördlichen Rand Islands ist es schließlich viel wichtiger, Spuren lesen und das Wetter einschätzen zu können. Und dabei macht Kalmann keiner etwas vor. Er ist an seine Umwelt perfekt angepasst. Und auch wenn alle anderen ihm eine beschränkte Denkfähigkeit andichten, ist Kalmann auf seine Art ein weiser Mann. Seine Gedanken über das Meer, die Natur und seine Gefühle sind unglaublich tiefgründig, und es gelingt dem Autor ganz fantastisch, in simplen Worten komplexe Sachverhalte auszudrücken. Das macht diese Geschichte besonders schön und eindringlich.

Aber es macht Kalmann auch zu einem unzuverlässigen Erzähler. Er schafft es nicht, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, und immer wieder verlieren wir uns in seinem kleinen Kosmos. Der Kriminalfall um Róbert McKenzie tritt immer wieder in den Hintergrund; aber wie schön das ist, mit Kalmann aufs Meer zu fahren oder seinen Großvater zu besuchen! Am Ende weiß Schmidt mit einer Auflösung zu überraschen, die mich völlig unvorbereitet traf. Das ist nur möglich durch den selektiv berichtenden Ich-Erzähler Kalmann, der eine großes Talent zur Verdrängung hat, wie er auch selbst zugibt. Klar, manche Aspekte sind vielleicht nicht ganz rund oder einleuchtend, aber allein das wahnsinnig gut genutzte Überraschungsmoment macht das alles wieder wett.

Gut gefallen hat mir außerdem, dass Schmidt alltägliche Rassismus- und Stadt-Land-Probleme aus Island in seinem Roman unterbringt. Fremde sind in Island nicht gerne gesehen, insbesondere Osteuropäer tragen ein großes Stigma als Verbrecher und Schmarotzer. Gleichzeitig "importieren" sich immer mehr alleinstehende Isländer Frauen aus Süd-Ost-Asien, da isländische Frauen erstens nicht mehr wirklich gewillt sind zu heiraten und Kinder zu kriegen, und da zweitens der isländische Genpool durch jahrhundertelange Isolation und Abschottung geschwächt ist. Diese Frauen haben aber kaum eine Chance auf ein gleichberechtigtes Leben und führen oft ein Schattendasein. Und während Dörfchen wie Rauferhöfn aussterben und ihre Fangquoten verscherbelt werden, schlürfen die Leute in Reykjavik Chai Latte. Auch der Klima- und Artenschutz kommt nicht zu kurz, und Schmidt kommt dabei ohne den erhobenen Zeigefinger aus. Die Grönlandhaie und andere Fischarten verschwinden von den Küsten, die Fischer müssen immer weiter aufs Meer hinausfahren, um Fische zu finden. Und Eisbären schwimmen von Grönland bis nach Island, in der Hoffnung auf Futter.

Mit Kalmann hat Schmidt einen erstaunlichen Erzähler geschaffen, der in seiner Einsamkeit berührt und mit seiner Stimme Emotionen wachruft. Auch wenn an dieser Geschichte nicht alles rund ist, konnte sie mich doch sehr gut unterhalten und am Ende richtig überraschen. Ich hatte einige Freude beim Lesen und empfehle das Buch sehr gerne weiter!