Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene.

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corbinian Avatar

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„Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene.“ Mit diesem Zitat von Muhammad Ali kennt jeder, auch wenn er sonst keine Ahnung vom Boxen hat und diesen Sport auch gar nicht verfolgt. Mittlerweile hat man, dank neuerer Kampfsportarten eher ein Verprügeln denn einen Sport, weshalb der Satz heute wohl wirklich nur noch im Boxsport Verwendung finden kann.
Warum beginne ich eine Rezension zu einem Buch, welches irgendwo im Osten von Deutschland spielt und indem die eigentliche Hauptfigur gar nicht boxt? Das ist einfach, David Blum, Lektor und Autor, entführt uns in Kollektorgang in die Welt von Mario, der in einem Plattenbau lebt und mit einem Boxer befreundet ist. Diese Freundschaft macht den Unterschied, denn sie führt zum Tod von Mario mit 14 Jahren. Erschienen ist das Buch vor wenigen Tagen beim BELTZ & Gelberg Verlag.

Ein Spoiler schon in der Einleitung zur Rezension. Nein, ich spinne nicht und mir geht es wirklich gut. Marios Tod ist nämlich tatsächlich der Aufhänger des Buches, denn er erzählt seine Geschichte aus dem Grab heraus. Diese Geschichte hat es in sich, erzählt sie doch das Leben in einem Plattenbau mit all den bekannten Klischees. Neonazis, Menschen mit internationaler Geschichte, erste Liebe, Schule, Mobbing, Außenseitertum und den Abenteuern im Plattenbau, insbesondere im Kollektorgang. Ein Kollektorgang ist ein die Fundamente umgebender schmaler Gang, der umstehende Bauten stabilisiert und mithilfe von in die Tiefe reichenden Schlitzwänden das Versickern von Grundwasser gewährleistet. Neben Mario, dem Toten, der seine eigene Geschichte auf seinem Grabstein sitzend erzählt, geht es auch um Rajko, seinen besten Freund, dem Boxer, und dessen Schwester Ema, für die Mario mehr als nur Freundschaft empfindet. Diese Freundschaft führt zu Marios Tod und wir erfahren auf gerade einmal 128 Seiten, wie es dazu kam. Natürlich erfahren wir auch etwas über Marios doch eher tristes Leben in einer zerrütteten Familie, auch ein Klischee, das irgendwie zum Plattenbau passt. Übrigens stört es gar nicht, dass man das Ende schon kennt, der Weg ist das Ziel und der hat es in sich.

Die Geschichte selbst ist traurig, mitreißend und wirklich etwas Besonderes. Vermutlich wird man in Zukunft an einigen Schulen dieses Buch im Deutschunterricht lesen. Thematisch gehört es genau dorthin, sprachlich auch, denn David Blum kann mit Wörtern umgehen. Einziger Kritikpunkt dabei ist die Sprache und der Anspruch, dem David Blum selbst gerecht werden will und auch wird, denn man merkt, dass das Buch von einem Erwachsenen geschrieben wurde, der genau weiß, was er tut. Genau das ist das Problem, denn Mario ist kein Lektor und Autor und auch nicht erwachsen, was viele Facetten der Geschichte und vieles der Sprache leicht unpassend aus dem Mund eines Jugendlichen wirken lässt. Das ist aber insgesamt nur ein kleiner Kritikpunkt und könnte vermutlich bei vielen Büchern, die in diesem Stil und aus der Sicht eines Kindes oder Jugendlichen geschrieben wurden, angemerkt werden. Alles in allem ist das Buch wirklich ein gelungener Coming of Death-Roman, man verzeihe mir das Wortspiel, der alle Leser*innen berühren wird. Interessant ist dabei vor allem, und auch das ist ein Klischee, dass Sport eine Möglichkeit des Entkommens ist.

Fazit: Kollektorgang ist keine Schonkost, sondern eine Konfrontation mit Tod, Liebe, Außenseitertum, Tristesse, Klischees und Boxen. Der Tod als Einstieg und die Geschichte von Mario ist gut erzählt und liefert jede Menge Stoff für Analysen und zum Nachdenken. Sprachlich befinden wir uns auf einem hohen Niveau, für eine Geschichte, die von einem Jugendlichen erzählt wird, vielleicht etwas zu hoch, aber als Autor will man ja auch zeigen was man kann und das macht David Blum großartig. Pflichtlektüre in 2023 und womöglich auch in der Zukunft.